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SDG10: Ungleichheit verringern

Rehabilitation und Integration benachteiligter Gruppen im Tourismus


Person mit braunem Karton mit Aufschrift

Ob Tourismus generell dazu beiträgt, sowohl die Armut als auch die Ungleichheit in der Welt zu reduzieren, dazu gibt es unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche wissenschaftliche Erkenntnisse. Wie aber gezielte Maßnahmen erfolgreich sein können, zeigen sozialunternehmerische Initiativen aus Indien, Kambodscha, Nepal und Südafrika, die für benachteiligte Gruppen Zukunftsperspektiven schaffen.

2023 markiert die Halbzeit der Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Sie waren 2015 von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen beschlossen worden und sollen bis 2030 umgesetzt sein. „Auf halbem Weg zur Umsetzung der Agenda 2030 lassen wir mehr als die Hälfte der Welt zurück", warnt UN-Generalsekretär António Guterres zu diesem Anlass. Auch in Bezug auf SDG 10 – weniger Ungleichheit – gab es Rückschritte. „Die Ungleichheiten sind auf einem Rekordhoch und nehmen weiter zu", so Guterres.

Vor der Corona-Pandemie hatte es zumindest noch einen positiven Trend gegeben, weil die Einkommen der ärmsten Menschen schneller stiegen als der nationale Durchschnitt. Durch die Folgen der Pandemie und die ungleiche Erholung in den verschiedenen Regionen der Welt droht sich dieser Trend aber umzukehren. Hinzu kommen die globalen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine und der gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel, die verschiedenen Gruppen unterschiedlich treffen. „Die Pandemie hat auch die strukturelle und systemische Diskriminierung verschärft“, heißt es im „Sustainable Development Goals Report 2022“ der Vereinten Nationen. Etwa jede/r Fünfte hat Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Alter, Geschlecht, Behinderung, Religion oder sexueller Orientierung erlebt.

Ausbildung als Schlüssel zu mehr Chancengleichheit

Um Ungleichheit zu verringern, wird der Ansatz eines „inklusiven Wachstums“ — wirtschaftlicher Entwicklung in Verbindung mit Chancengleichheit—propagiert. Dazu müssen gezielt Beschäftigungsmöglichkeiten für marginalisierte Gruppen geschaffen werden. Haven, ein Sozialunternehmen in Siem Reap, Kambodscha, zeigt beispielhaft, wie das gelingt. Das Ausbildungsrestaurant bereitet sozial benachteiligte junge Menschen, die als Waisenkinder aufgewachsen sind, auf die Arbeitswelt vor. Mit einer soliden, 16-monatigen Berufsausbildung ermöglicht das Restaurant ihnen einen Berufsstart als qualifizierte Servicekräfte oder Küchenpersonal in der Gastronomie.

Stärken nutzen, Marktzugang sichern

Auch für die Nichtregierungsorganisationen Sasane in Nepal und !Khwa ttu in Südafrika ist Ausbildung der Schlüssel zu den so dringend nötigen beruflichen Perspektiven für Menschen, die sonst kaum Chancen bekämen—aufgrund ihres persönlichen Schicksals, aufgrund widriger Umstände, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen, oder als Angehörige einer indigenen Gruppe. Die Organisationen setzen gezielt auf die Stärken ihrer Auszubildenden. Die Frauen, mit denen Sasane arbeitet, haben als Opfer von Menschenhandel Schlimmes durchmachen müssen. Ihre Heimat aber ist ihnen vertraut und sie können die Kultur und Natur ihrer Bergdörfer als Reiseleiterinnen gut vermitteln. Die indigenen San, für die !Khwa ttu sich einsetzt, gestalten mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen über ihr kulturelles Erbe das touristische Angebot in eigener Regie. 

In Indien arbeitet das Sozialunternehmen Open Eyes mit dem NAB India Centre for Blind Women & Disability Studies zusammen, das blinde Frauen als Masseurinnen ausbildet und dabei auf deren besonders guten Tastsinn setzt. Als Tourismusunternehmen vermittelt Open Eyes die gut ausgebildeten Frauen an touristische Anbieter und ermöglicht ihnen damit einen besseren Zugang zum Markt sowie eine bessere Bezahlung. Ebenso kooperiert Open Eyes mit der Chhanv Foundation, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rehabilitation von Frauen engagiert, die Säureangriffe überlebt haben. Die Chhanv Foundation betreibt in Lucknow und Agra „Hangout Cafés“ und macht dort auch auf ihre „Stop Acid Attacks“-Kampagne aufmerksam. In Agra, wo Touristinnen und Touristen vor allem die Schönheit des Taj Mahals bewundern, werden sie auf einer Solidarity Action Tour von Open Eyes beim Besuch des Cafés mit der unschönen Realität von Gewalt gegen Frauen in der indischen Gesellschaft konfrontiert.

Bewusstsein schaffen

Oft leiden Frauen, die mit Säure verletzt wurden, unter sozialer Ausgrenzung. Der träge Justiz-Apparat und das Fehlen einer wirklichen Bestrafung der Angreifer halten viele von ihnen davon ab, gegen die Täter vorzugehen und ihre Stimme öffentlich zu erheben. Open Eyes nennt ihr Café einen „Raum der Hoffnung und der Selbstverbesserung“. „Die Frauen werden im Programm als starke Überlebende und nicht als Opfer vorgestellt, so wie sich die Frauen auch selbst sehen“, schrieb Gutachter Dietmar Quist in seiner Preisbegründung für den TO DO Award Sozialverantwortlicher Tourismus, mit dem Open Eyes 2019 vom Studienkreis für Tourismus und Entwicklung ausgezeichnet wurde. Für ihn als Gast war der Besuch eine positive Erfahrung: „Der erste Schockmoment wird von der Energie, der Lebenskraft und dem Lachen dieser Frauen mehr als wettgemacht“.

So nutzt Open Eyes sich im Tourismus bietende Chancen, Reisende mit Menschen in Verbindung zu bringen, die ihren legitimen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe allen Widrigkeiten zum Trotz erfolgreich durchsetzen. Die Gäste sichern so nicht nur Arbeitsplätze und Einkommen für Benachteiligte, sondern können über touristische Programme auch an gesellschaftliche Anliegen herangeführt werden. Sie erhalten nicht nur eine einfache Dienstleistung, sondern lernen zusätzlich viel über Probleme und Lösungsansätze in der Gesellschaft, in der sie zu Gast sind. Und mehr noch: Sie werden – wie auch die Unternehmen – Teil der Lösung.

Das Ruder herumreißen

Um jedoch das Ruder herumzureißen und die Welt in Bezug auf SDG 10 wieder „auf Kurs“ zu bringen, braucht es erheblich mehr Anstrengungen, auch im Tourismus. Wie gesellschaftliche Teilhabe gefördert werden kann, können Sozialunternehmen zwar eindrucksvoll demonstrieren. Um jedoch zur Verringerung von Ungleichheit breite gesellschaftliche Ergebnisse zu erzielen, braucht es noch viel mehr solcher Ansätze in allen Bereichen des Tourismus. Das gilt auch für Unternehmen für die die Beseitigung von Armut und Ungleichheit im Sinne der Agenda 2030 bisher nicht im Fokus stand. Einige von ihnen gehen bereits erste Schritte in Richtung einer Stärkung des Gemeinwohls. Auch sie könnten ihr Engagement noch deutlich verstärken. Bis dann auf breiterer Front, wie es Claudia Brözel, Professorin an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, im Interview in dieser Ausgabe formuliert hat, „Impact ein integraler Bestandteil des Geschäftsmodells“ wird.