Artikel

Nepal: Ein neues Leben

Wie der Tourismus aus Opfern von Menschenhandel starke Frauen macht


Nepalesische Reiseleiterinnen

Durch Sasane konnte Sitasma neue Lebensperspektiven gewinnen. Sie war aus ihrem Dorf in Nepal in ein indisches Bordell verschleppt worden und konnte entkommen. Von Sasane wurde sie zur Reiseleiterin ausgebildet, gewann ihr Selbstvertrauen zurück und arbeitet heute für das Unternehmen Sasane Sisterhood Trekking & Travel.

„Sasane gab mir ein neues Leben“, sagt Sitasma Gurung*. Wie auch sie werden immer wieder junge Frauen aus ländlichen Gebieten in Nepal Opfer des Menschenhandels zum Zwecke kommerzieller sexueller Ausbeutung. Die meisten von ihnen stammen aus Regionen, die 2015 vom Erdbeben betroffen waren und in denen die wirtschaftliche Not zugenommen hat. Um Frauen, die sich aus den Fängen der Menschenhändler befreien konnten, zu helfen, gründete eine Gruppe von Überlebenden die Nichtregierungsorganisation (NGO) Samrakshak Samuha Nepal (Sasane). Nach der formellen Gründung stand zunächst die Rettung von Frauen aus der Not im Vordergrund. Dann folgten Sensibilisierungsprogramme in den Dörfern und eine Tourismusinitiative, die den Frauen neue Lebensperspektiven bietet.

Ausbildung und Beschäftigung gehören zusammen

Sasane hat einen hybriden Ansatz gewählt: Die gemeinnützige NGO und das gewinnorientierte Unternehmen sind unterschiedliche Organisationen, haben jedoch die gleiche Aufgabe, nämlich die Stärkung der Frauen durch Bildung, Ausbildung, Zertifizierung und Beschäftigung. Die NGO Sasane bildet die Frauen aus und erhält dafür finanzielle Unterstützung vom Unternehmen Sasane Sisterhood Trekking & Travel. 

Sitasma ist eine von elf Frauen, die von Sasanes innovativem Ansatz profitiert haben, indem sie zu Fachkräften im Tourismus ausgebildet wurden. Sie hatte das Glück, dass sie entkommen konnte, nachdem sie nach Indien verkauft und dort zur Sexarbeit gezwungen worden war, eingesperrt in einem kleinen Raum, Tag und Nacht, ohne richtige Nahrung und Wasser. Es gelang ihr zu fliehen und sie versteckte sich in einer riesigen Abwasserleitung, bis schließlich ein Passant auf sie aufmerksam wurde und mit ihr zur Polizei ging. Nachdem sie die Sprachbarriere mit Zeichnungen überwunden hatte und der Polizei mitteilen konnte, dass sie aus Nepal stammte, fand sie Schutz bei der Hilfsorganisation Maiti Nepal, einer Partnerorganisation von Sasane.

Doch die Rückkehr nach Hause war schwierig. „Ich verlor jede Hoffnung, als meine Familie sich weigerte, mich zu akzeptieren, nachdem sie davon erfahren hatte“, erinnert sie sich. Ihr Leben änderte sich schließlich, als sie für ein Rehabilitationstraining an Sasane verwiesen wurde. „Ich entschied mich für eine Ausbildung zur Reise-/Trekkingführerin, weil ich in Beratungsgesprächen von den guten Perspektiven im Tourismus erfahren hatte“, erzählt Sitasma. „Ich wurde von Sasane ausgebildet und mit verschiedenen Gesetzen, Bestimmungen und Möglichkeiten im Tourismus vertraut gemacht. Ich lernte monatelang Englisch und grundlegende Computeranwendungen. Ich habe die Trekking-Prüfung erfolgreich bestanden und eine Lizenz als Guide erhalten".

Wenn Frauen wie Sitasma eine solche Möglichkeit erhalten, bekommen sie das Selbstwertgefühl, die Fähigkeiten, das Wissen, die Erfahrung und die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die sie brauchen, um in jedem Bereich, für den sie sich entscheiden, eine Führungsrolle zu übernehmen.

„Heute leite ich Städtetouren und organisiere Trekkingtouren mit Reisenden aus verschiedenen Teilen der Welt. Ich habe die Möglichkeit, mit den Reisenden in Kontakt zu kommen, ihre Kultur zu verstehen und meine Kultur zu vermitteln. Ich verdiene gutes Geld, dass es mir ermöglicht, mir eine Mietwohnung zu leisten und auch meine Familie zu unterstützen", sagt Sitasma. Als Reiseleiterinnen in Kathmandu und Pokhara und als Trekkingführerinnen in ihren Bergdörfern werden die Frauen von ihren Gemeinschaften nun nicht länger stigmatisiert und ausgegrenzt. Sie bekommen den Respekt, der ihnen gebührt. „Jetzt akzeptiert mich meine Familie und ermutigt mich, noch mehr zu erreichen", erzählt Sitasma.

Es sind starke Frauen wie sie, die zu Vorbildern für junge nepalesische Mädchen werden können und anderen Opfern Hoffnung und Inspiration geben. Sie sind stolz auf sich selbst und auf das, was sie erreicht haben. Was ihnen auch dabei helfen kann, ihre traumatische Vergangenheit zu bewältigen.

Bewusstseinsbildung bei Reisenden

Um die Sicherheit der Frauen zu gewährleisten und sie davor zu bewahren, erneut zu Opfern zu werden, hat Sasane Sisterhood Trekking & Travel einen Ethikkodex eingeführt und angemessene Verhaltensweisen formuliert, die von Reisenden erwartet werden. Es gibt ausgewiesene Sicherheitsbeauftragte, die gegen jegliches Fehlverhalten von Reisenden vorgehen. Das Unternehmen sensibilisiert die Reisenden für die Schrecken des Menschenhandels, den Überlebenskampf dieser jungen Frauen und den Beitrag des Tourismus, der ihnen ein neues Leben ermöglicht.

Kraft durch Lebenserfahrung

Die Frauen, die dem Menschenhandel entkommen sind, haben Dinge durchgemacht, die wir uns nicht vorstellen können. Ihre Stärke, ihr Mut und ihre Widerstandskraft sind inspirierend. Aufgrund der traumatischen Erfahrungen, die sie durchgemacht haben, mangelt es ihnen jedoch manchmal an Selbstvertrauen. Viele wünschen sich eine noch bessere Trekking-Ausbildung, um mit den ihrer Meinung nach viel erfahreneren Trekking-Guides konkurrieren zu können.

Was diese Frauen jedoch haben, was andere Guides nicht haben, ist ihre Lebenserfahrung. Und es sind ihre Berge und ihre Dörfer, niemand kennt diese Gegenden besser als sie, die hier aufgewachsen sind. Für viele von ihnen sind dies Orte, von denen sie dachten, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren könnten, weil sie sich schämen und oft auf Ablehnung stoßen. Und doch kehren sie zurück, und zwar erhobenen Hauptes und mit Stolz auf das, was sie dank ihrer Ausbildung und finanziellen Unabhängigkeit durch Sasane erreicht haben. Jede dieser Frauen verdient die Chance, ihre individuellen Träume und Potenziale zu verwirklichen.


*Name geändert

Jeny Pokharel ist Gründerin von Sasane Sisterhood Trekking & Travel, einem Reiseveranstalter in Kathmandu, Nepal, der Ausflüge in Bergdörfer, Stadt- und Kulturtourismus, Wellness-Aufenthalte, Kochkurse, Abenteuertourismus etc. anbietet. Sasane wurde 2023 mit dem TO DO Award Human Rights in Tourism ausgezeichnet.