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Tourismus als sichere Lebensgrundlage?

Erfahrungen aus der Corona-Krise


Resilienz durch gemeindebasierten Tourismus

Die Welt erlebt derzeit durch die Covid-19-Pandemie noch nie dagewesene Verwerfungen. In Indien könnten nach Schätzungen des Wirtschaftsverbandes Confederation of Indian Industry (CII) entlang der touristischen Wertschöpfungskette über fünf Billionen indische Rupien (über 58,6 Milliarden Euro) Umsatz verloren gehen, davon über 18 Milliarden Euro im organisierten Sektor. Dabei wird berücksichtigt, dass etwa 70 Prozent des indischen Tourismus dem unorganisierten, informellen Sektor zuzurechnen sind. Die Corona-Krise offenbart die Schwächen des so hochgelobten Tourismussektors.

Derzeit ist die Flaute weithin sichtbar. Hotels sind geschlossen, die Strände leer und nur wenige Restaurants bleiben geöffnet und bieten einen Abhol- oder Lieferservice an. „Seit Beginn des Lockdowns wurden die Reservierungen für März, April und Mai storniert und im Laufe der nächsten Monate werden die meisten Veranstalter im Tourismus ohne Umsatz arbeiten. Gleichzeitig sind weiterhin Gehälter, Strom, Wasser, Wartungskosten und weitere Fixkosten zu zahlen. Hotels müssen umfassend instandgesetzt werden, um wieder genutzt werden zu können. Eine erfolgreiche Erholung der Tourismuswirtschaft wird es nur mit substanzieller staatlicher Unterstützung der Bundesstaaten und der Unionsregierung sowie der Wirtschaftsverbände geben”, meint ein Manager einer Hotelanlage in Varkala, einer bekannten Tourismusdestination in Kerala, Südindien. In fast allen touristischen Zielgebieten sieht es ebenso aus.

„Wir haben keine Gäste und keine anderen Einkommensmöglichkeiten. Wir sind völlig abhängig vom Tourismus und haben kein Kapital, um in Alternativen zu investieren“, sagt Deepak Gupta, ein Vertreter des Verbandes der Straßenverkäufer*innen aus Bodhgaya, einem berühmten buddhistischen Pilgerzentrum.  Als Alternative zu traditionellen Formen des Lebensunterhalts macht der Tourismus Gemeinschaften in der Krise besonders anfällig.

Doch im Gegensatz zu konventionellen Tourismusunternehmen ist der gemeindebasierte Tourismus widerstandsfähiger. Es geht dabei um einen Nischentourismus, der dezentralisiert, nachhaltiger und kleinteilig ist. „Wir betrachten den Tourismus als Zusatzeinkommen zu unseren Einnahmen aus der Landwirtschaft. Der Tourismus, den wir fördern, ist nicht kapitalintensiv und bewahrt unsere ländliche Identität. Wir nutzen vorhandene Infrastruktur wie Home-Stays'', sagt Mallika Virdhi aus Munsiari, einem Himalaya-Dorf im indischen Bundesstaat Uttarakhand. Aufgrund der Covid-19-Pandemie kamen hier in den vergangenen drei Monaten gar keine Gäste. Doch eine Sicherheitsreserve von fünf Prozent der Gesamteinnahmen aus dem Tourismus hilft ihrer Gemeinschaft in dieser Zeit. „Wir wollen kein Rettungspaket von der Regierung. Wir wollen, dass unsere wichtige Rolle im Tourismus anerkannt wird”, sagt Rekha, ebenfalls Home-Stay-Betreiberin aus Munsiari. Sie ist sicher, dass das, was während dieser Krise funktioniert, auch in Zukunft funktionieren wird.

„Im März, April und Mai haben wir unser Einkommen aus dem Tourismus verloren, doch wir sind nicht unter Druck. Hier ist jetzt Monsun-Zeit und wir sind mit einigen unserer landwirtschaftlichen Aktivitäten beschäftigt. Wir haben das Pflanzen von Reis-Setzlingen um einen Monat verschoben, um nicht wieder eine Ernte zu verlieren, für den Fall, dass es wieder Überschwemmungen gibt”, sagen Jayesh und Sindhu, ein Ehepaar aus Wayanad in Kerala. Zwei Jahre in Folge litt ihr Distrikt unter schweren Überschwemmungen durch den Monsun. 2018 und 2019 half der Home-Stay-Tourismus einigen Bäuerinnen und Bauern, Verluste aus der Landwirtschaft aufzufangen. Nun haben sie ihren Pflanzkalender angepasst, um die Risiken zu mindern.

Die Zukunft in unseren Händen

Abgesehen von ihren negativen Auswirkungen ist die Corona-Krise eine Chance, die Resilienz des Tourismus als Entwicklungsmodell kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die zunehmende Rolle des Staates im Tourismus durch Rettungspakete und andere Maßnahmen sollte eine Gelegenheit sein, neue Bedingungen für staatliche Hilfe zu formulieren. Zum Beispiel, dass die Unternehmen in Bezug auf ihre Klimabilanz, die Beteiligung von Gemeinschaften, den Nutzen des Tourismus für die ortsansässige Bevölkerung und ein besseres Zielgebietsmanagement strenge Auflagen erfüllen müssen. Die Regierungen sollten Richtlinien auf der Grundlage von positiven Beispielen als Bedingungen für ihre Hilfsleistungen festlegen. Die Erfahrungen vieler gemeindebasierter Tourismusprojekte müssen in zukünftige Planungen und politische Handlungskonzepte einfließen.

Die Erfahrung zeigt, dass die idealen resilienten Destinationen diejenigen sind, die effektiv mit Krisen umgehen und sich rasch davon erholen. Es sind diejenigen, deren politische Handlungskonzepte aktuellen und zukünftigen Risiken Rechnung tragen. Dies beinhaltet auch die Dezentralisierung von Entscheidungs- und Managementbefugnissen im Tourismus. Einige der Erfahrungen aus dem gemeindebasierten Tourismus zeigen, dass solche Initiativen Gemeinschaften krisenfester machen als konventionelle Tourismusmodelle.

Wir müssen den globalen Tourismus nach der Corona-Krise im Kontext von “Overtourism“, Finanzkrisen, dem Klimawandel und anderen Umwälzungen analysieren. Eine solche Analyse kann Einblicke in weitere Resilienz-Aspekte ermöglichen, wie zum Beispiel die geringe Profitabilität und Liquidität der Branche, bestehende Überkapazitäten und Überangebote, Subventionen und steuerliche Anreize, die Deregulierung der Märkte und die Entwicklung der disruptiven Plattformwirtschaft.

Ein grundlegender Wandel und Paradigmenwechsel für einen nachhaltigeren Tourismus kann die Auswirkungen einer Krise wie Covid-19 abmildern und auch die Resilienz des Tourismussektors erhöhen. Abstandsregelungen können ein Anlass sein, sich vom Massentourismus-Paradigma zu verabschieden. Die Corona-Krise stellt eine Chance dar, von einem an Quantität orientierten Tourismus wegzukommen und mehr auf Qualität zu setzen.

Joyatri Ray ist Geschäftsführerin von Equitable Tourism Options (Equations), einer Nichtregierungsorganisation, die Forschungs-, Kampagnen- und Advocacy-Arbeit zu Tourismus und Entwicklung in Indien betreibt.

K.T. Suresh arbeitete 20 Jahre in verschiedenen Positionen bei Equations und ist derzeit stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Organisation.

Sumesh Mangalasseri ist Gründer von Kabani – the other direction und Kabani Community Tourism and Services, einer Nichtregierungsorganisation und einem Sozialunternehmen, die gemeindebasierten Tourismus in Indien fördern. Er arbeitet in verschiedenen Programmen mit Equations zusammen, zum Beispiel an der Entwicklung eines Netzwerkes gemeindebasierter Tourismusorganisationen.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp