Dossier Klimagerechtigkeit

Indien hebt ab

Immer mehr Flugreisen – auch für ‘einfache Leute‘


Indischer Flughafen

Indien sieht sich als aufstrebende Nation und verweist gerne auf ihren enormen Nachholbedarf. Das gilt auch für Flugreisen. Für die indische Oberschicht und Teile der wachsenden Mittelschicht ist das Fliegen inzwischen selbstverständlich geworden. Nun will die Regierung es auch für weniger Betuchte erschwinglich machen.

Bahadur Chand Gupta aus dem indischen Bundesstaat Haryana ist Flugzeugingenieur im Ruhestand. Er hat ein ausrangiertes Flugzeug gekauft, um Kinder aus ärmeren Verhältnissen erleben zu lassen, wie es sich anfühlt, einmal in so einer Maschine zu sitzen – Boarding Pass in der Hand, angeschnallt und den Sicherheitshinweisen lauschend. Da das Flugzeug nicht mehr abhebt, kommt es dem Null-Emissionsziel erfreulich nahe. Ganz anders der Rest der indischen Luftfahrt.

Ein Subkontinent als nationaler Markt

Angesichts der riesigen Ausdehnung des indischen Subkontinents sind Inlandsflüge in Indien oft Mittelstreckenflüge – vergleichbar mit Entfernungen von Oslo nach Tunis oder Paris nach Moskau. Die indische Generaldirektion für zivile Luftfahrt hat für das Geschäftsjahr April 2017- März 2018 rund 123,32 Millionen Inlandsfluggäste erfasst. Hinzu kamen 60,6 Millionen Passagiere auf internationalen Linienflügen (ohne Charter). Doch die Zahlen sind seitdem rasant weiter gestiegen – und damit auch die Treibhausgasemissionen.

Auf Wachstumskurs

Der indische Inlandsflugverkehr verzeichnete in den vergangenen zehn Jahren ein enormes Wachstum von über zehn Prozent pro Jahr. Davon entfiel der größte Teil auf Billigfluglinien wie IndiGo und Jet Airways. Die hochverschuldete Jet Airways musste allerdings im April 2019 ihren Betrieb einstellen. Der Flugzeugbauer Airbus rechnet damit, dass der Inlandsflugverkehr nach Passagierzahlen in Indien von 2017 bis 2037 um das Fünffache zunehmen wird – der höchste Anstieg weltweit.

Auch der internationale Flugverkehr nach und aus Indien ist auf rasantem Wachstumskurs und wuchs in den vergangenen zehn Jahren um durchschnittlich über acht Prozent pro Jahr. Da viele Inder*innen in den Golfstaaten arbeiten, gehen mehr als die Hälfte der internationalen Flüge in die Region Afrika/Naher Osten. Auch touristische Reisen sind beliebt geworden, ins Ausland, aber gerne auch im eigenen Land.

Wer Flughäfen sät, wird Flugverkehr ernten

Das ist ganz im Sinne der Regierung unter Premierminister Modi, die dem Wirtschaftswachstum weiter Auftrieb geben will. Mit ihrem 2017 auf den Weg gebrachten „UDAN-Regional Connectivity Scheme“ soll es auch für ‘einfache Leute‘ bequemer und preisgünstiger werden, innerhalb Indiens zu fliegen. Erhebliche Vergünstigungen, Ticket-Subventionen und Steuererleichterungen sind Teil der aktuellen Luftverkehrspolitik. Es wird auf mehr Flugrouten (darunter auch Kurzstrecken und touristisch relevante Routen) und mehr Flughäfen gesetzt. Auch kleinere Städte sollen besser angebunden werden.

Nach einem Bericht in der „Times of India“ vom 31. Juli 2019 sind derzeit mehr als 100 neue Flughäfen geplant, die bis 2035 fertig gestellt sein sollen. Einige dieser Flughafenprojekte, darunter Megaprojekte wie der Navi Mumbai Airport, sind hochumstritten. Das zeigt der ‘Environmental Justice Atlas‘, ein Kartierungsprojekt zu Umweltproblemen, das derzeit über 300 Umweltkonflikte in Indien erfasst hat. Darunter sind auch mehrere Flughäfen und Aerotropolen.

Widerstand gegen Flughafenbau

Der Widerstand von Betroffenen und Umwelt-Engagierten in Indien richtet sich vor allem gegen den Bau und Ausbau von Flughäfen, wo großflächig natürliche Lebensräume und Lebensgrundlagen zerstört und Menschen vertrieben werden. Bäume werden abgeholzt, Dörfer umgesiedelt und die Leidtragenden selten adäquat dafür entschädigt. In Karad im Bundesstaat Maharashtra wehren sich seit acht Jahren Bäuer*innen gegen den Ausbau des lokalen Flughafens. Durch die Erweiterung würde fruchtbarer, landwirtschaftlich genutzter Boden mit Bewässerungsinfrastruktur zerstört, von dem 25.000 Menschen abhängig seien, beklagt Vinayak Shinde, ein Sprecher der betroffenen Dorfbevölkerung. „Viele Male haben wir unserer Regierung von Maharashtra erklärt, dass dieses Projekt unnötig ist”, so Shinde. Seit Ende Juli befänden sich Betroffene vor der Verwaltung in der Distrikt-Hauptstadt Satara in einem Sitzstreik, der so lange fortgesetzt werde, bis die Regierung einlenkt.

„Am Boden bleiben”

Das internationale Netzwerk ‘Stay Grounded‘ unterstützt solche Bürgerinitiativen, indem es die Konflikte publik macht. Es zeigt auch, dass Widerstand erfolgreich sein kann. In Aranmula in Kerala, wo Reisfelder und Waldgebiete für den Bau eines fünften internationalen Flughafens in dem kleinen südindischen Bundesstaat geopfert werden sollten, wurde das Projekt durch breite Proteste gekippt. Im Bundesstaat Andhra Pradesh erstritten sich Betroffene des Flughafenbaus in Bhogapuram die ihnen ursprünglich zugesagten (und dann reduzierten) Entschädigungsleistungen für Landnahmen.

Solche kleinen Erfolge machen Mut, reichen aber bei weitem nicht aus. In einem Positionspapier fordert ‘Stay Grounded‘ ein gerechtes Transportwesen und eine rasche Verringerung des Flugverkehrs. Das All India Forum of Forest Movements (AIFFM) ist Teil dieses Netzwerks. Doch Kritik am Fliegen an sich hat es bislang nicht auf der Agenda. „Im hier herrschenden Paradigma glauben die Menschen noch an legitimes Wachstum“, erklärt Souparna Lahiri vom AIFFM. „Benachteiligte Gemeinschaften sind davon abgehängt, haben keine Stimme oder kommen nicht auf die Idee, sich in Bezug auf ihre Gefährdung durch die Folgen des Klimawandels Gehör zu verschaffen. Nach meiner Einschätzung sind der Flugverkehr als Problemfeld und die Bewegung, die sich kritisch damit auseinandersetzt, momentan noch Phänomene des Nordens.“

“Pro Kopf” sind wir gut?

Es ist auch nur bedingt hilfreich, die Daten zum Flugverkehr in Indien ins Verhältnis zur indischen Bevölkerung zu setzen – was dem zuweilen beliebten indischen „Pro Kopf sind wir gut“-Argument Rechnung tragen würde. Indien zählt zu den Ländern mit den niedrigsten CO2-Emissionen pro Kopf und liegt derzeit bei ca. 40 Prozent des globalen Durchschnitts. Das Land trägt mit seinen bald 1,4 Milliarden Menschen und derzeit ca. 17,7 Prozent der Weltbevölkerung aktuell etwa sieben Prozent zum globalen CO2-Ausstoß bei. Wie sich dieser Anteil in Zukunft entwickeln wird, hängt von Indien selbst, aber auch von den Klimaschutz-Erfolgen in anderen Ländern ab.

Doch das Klima schert sich nicht um nationalstaatliche Grenzen, darauf basierende Zurechnungen, Nachholbedarf oder historische Verantwortung. Wirbelstürme und Überschwemmungen, Wasserknappheit, Dürren und unerträgliche Hitze setzen den Menschen in Indien und anderswo schon heute immer mehr zu. Um zu versuchen, das Leid für Mensch und Natur in Grenzen zu halten, braucht es gemeinsame, durchaus auch differenzierte, aber in erster Linie ganz erheblich mehr umwelt- und klimapolitische Verantwortung.

Christina Kamp ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunkt Tourismus und Entwicklung.