Das Flair in den Straßen, prunkvolle Gebäude und kulturelle Schätze in Ausstellungen und Museen - all das macht Europas Metropolen für Touristinnen und Touristen attraktiv. Reisende in Amsterdam, Paris oder Lissabon erfahren jedoch in der Regel nicht, wie die Städte zu diesem Reichtum gekommen sind. Denn einen Teil dieser barocken Pracht gibt es nur aufgrund des Wohlstandes, den die Ausbeutung in den Kolonien einbrachte. Neben dem Raubbau an Ressourcen wie Gold, Silber, Edelsteinen, Elfenbein, Kautschuk und Salz, fußt der europäische Wohlstand dieser Epoche auch auf einem: der weltweiten Plantagensklaverei und dem internationalen Sklavenhandel. Das zersplitterte Deutschland war zu dieser Zeit zwar selbst keine Kolonialmacht, doch deutsche Reeder, Kapitäne und Seeleute waren, oft verdeckt unter portugiesischer oder niederländischer Flagge, am Menschenhandel beteiligt. Die vom Kurfürsten von Brandenburg initiierte Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie deportierte sogar selbst etwa 20.000 versklavte Menschen aus Westafrika unter unmenschlichsten Bedingungen über den Atlantik in die Karibik. Wer sich heute von einem Tourguide durch Berlin-Mitte führen lässt, erfährt von diesen Verbrechen nichts. Um diese verborgenen Geschichten der Kolonialisierten und Versklavten und ihres Widerstandes sichtbar zu machen, braucht es daher auch Tourismusanbieter, die dieses Wissen vermitteln.
Postkoloniale Auseinandersetzung in Museen
Museen haben eine besonders wichtige Verantwortung, sich mit dem kolonialen Erbe auseinanderzusetzen. Auch dank ihrer Ausstellungsstücke, die aus den Kolonien westeuropäischer Länder stammen, sind sie wahre Tourismusmagnete. Dass viele der Objekte illegal oder auf unethische Weise erworben wurden, bleibt jedoch häufig unsichtbar. Nachdem nun endlich die längst überfällige Restitution dieser Artefakte langsam in die Gänge kommt, stellen sich immer mehr Museen unter dem Druck ehemals kolonisierter Staaten, Aktivistinnen und Aktivisten, sowie Akademikern und Akademikerinnen ihrem kolonialen Vermächtnis. So setzt sich beispielsweise das belgische Afrika-Museum seit 2018 kritisch mit der brutalen Besetzung des Kongo durch König Leopold auseinander. Eine Kehrtwende für das Museum, das zuvor die Kolonisierung als Wohlstandsbringer für „wilde Völker“ romantisiert hatte. Auch das Nationalmuseum der Niederlande, das Rijksmuseum, erzählt heute seine Geschichte abseits von Ruhm und Reichtum der Kolonialzeit in einer Ausstellung zur niederländischen Sklaverei. Vom 17. bis 19. Jahrhundert versklavten und verkauften niederländische Händler mehr als 600.000 Afrikaner und Afrikanerinnen und über eine Millionen Menschen aus asiatischen Gebieten nach Nord- und Südamerika. Um diesen Teil der niederländischen Geschichte sichtbar zu machen, wurden Ausstellungsstücke des Museums auf ihre grausige Vergangenheit geprüft. Jetzt wird nicht mehr nur gezeigt, wer Kunstwerke erworben hat, sondern auch, woher die meist wohlhabenden Handelsherren die Mittel hatten, um die Werke zu erstehen: Durch Sklavenhandel, Ausbeutung und Raub.
Postkoloniale Stadtführungen
Auch die Straßen europäischer Metropolen sind voll von Spuren des Kolonialismus. Manche Tourguides bieten daher postkoloniale Erkundungstouren an. So gibt es in Amsterdam, Brüssel und New York Black Heritage Stadtführungen, die Touristinnen und Touristen koloniale Symbole an den Grachtenhäusern, nationalen Denkmälern und in Museen zeigen. Die Touren finden in enger Zusammenarbeit mit dem Tourismusmarketing statt. Auch der Verein Berlin Postkolonial e.V. erkundet in Führungen vergessene oder geschönte Orte der deutschen Kolonialgeschichte in Berlins Mitte. „Wir wollen den Leuten einen verdrängten Teil der Geschichte erzählen und diejenigen würdigen, die Widerstand gegen Kolonialismus und Rassismus geleistet haben. Deren Spuren sind buchstäblich vor der Haustür zu finden, werden aber von klassischen Stadtführungen in der Regel ignoriert,“ so Christian Kopp von Berlin Postkolonial. Die älteste Tour des Vereins führt durch das sogenannte Afrikanische Viertel im Berliner Wedding, eines der größten kolonialpropagandistischen Straßen-Ensembles, die das deutsche Kolonialreich glorifizieren. Eine weitere Tour zeigt die Anfänge der Schwarzen Diaspora in der alten Friedrichstadt sowie das ehemalige Palais des Reichskanzlers Otto von Bismarck in der Wilhelmstraße 92. Hier haben die Großmächte 1884/85 über die Aufteilung Afrikas verhandelt und den Kongo an Leopold II. von Belgien vergeben – mit Millionen Toten als Folge. Was ursprünglich als Bildungskonzept konzipiert wurde, spricht immer häufiger auch Touristen und Touristinnen an, die etwas über die imperialistische Stadtgeographie ihres Reiseziels erfahren möchten. Trotzdem versteht Christian Kopp die Stadtrundgänge nicht als touristisches Angebot im kommerziellen Sinne: „Wir erzählen von unfassbaren Verbrechen, für die es bis heute keine Anerkennung, Entschuldigung oder Entschädigung gibt. Wir haben kein Interesse daran, diese Themen zu vermarkten. Wir fänden das respekt- und pietätlos gegenüber den Opfern.“ Eine Zusammenarbeit mit dem Berliner Tourismusmarketing gibt es daher nicht. Allerdings gab es bereits Rundgänge für Stadtführer und Stadtführerinnen, die sich weiterbilden wollten. Eine begrüßenswerte Initiative, sagt Kopp: „Es ist gut, wenn Guides sich für das Thema sensibilisieren und so eine postkoloniale Perspektive bei ihrem Standardprogramm einbauen. Noch besser wäre es allerdings, wenn Schwarze und People of Color selbst als Stadtführerinnen und Stadtführer zu Wort kämen. Die Guides bei Berlin Postkolonial sind daher in der Regel selbst Nachfahren und Nachfahrinnen Kolonisierter.“
Wissensvermittlung statt Barock-Beschönigung
Die damaligen Verbrechen wirken bis heute nach. Figuren und Symbole, die die Fassaden bis heute schmücken, aber auch viele Straßennamen wecken Erinnerungen an diese Zeit. So erinnert etwa die Berliner M*straße noch heute herablassend und schmerzlich für viele Schwarze Menschen an die Minderjährigen afrikanischer Herkunft, die um 1700 in den Palais der königlichen Hohenzollern-Familie dienen mussten. Um ein realistisches Bild zu vermitteln, das diesen postkolonialen Traumata gerecht wird, ist es wichtig, die koloniale Geschichte hinter Ausstellungen und touristischen Attraktionen kritisch zu beleuchten. Dazu gehört nicht nur der Besuch klassischer Sehenswürdigkeiten, sondern auch der Einbezug von Orten, die mit Kolonialismus, Rassismus und Widerstand verbunden sind. So können Tourismusanbieter ihrer Verantwortung gerecht werden und Wissen über die von Kolonialismus geprägte Geschichte und Gegenwart vermitteln, anstatt sich mit ihren Gästen lediglich in die eben nicht nur prunkvolle Vergangenheit europäischer Metropolen zurück zu träumen.