Der internationale Gipfel zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung auf Reisen und im Tourismus fand Anfang Juni 2018 in Bogota, Kolumbien statt und bot einen guten Anlass, die Wirksamkeit von verschiedensten Kindesschutzmaßnahmen kritisch zu hinterfragen. Wichtige Akteure der Tourismusindustrie - darunter Hotelketten, Reiseveranstalter, Airlines und nationale Tourismusbehörden - berichteten auf dem Gipfel, wie sie konkrete Maßnahmen ergreifen, um ein Problembewusstsein für die Ausbeutung von Kindern zu schaffen und Lösungen zu entwickeln. Es ist eine sehr positive Entwicklung, dass die großen Akteure der Tourismusindustrie inzwischen begonnen haben, Verantwortung im Bereich Kindesschutz zu übernehmen und den Kindesschutz-Kodex umzusetzen. Dennoch bleibt die drängende Frage: Warum steigt die Zahl der Kinder, die Opfer sexueller Ausbeutung durch Reisende und Touristen werden, weiter stark an - trotz dieser Maßnahmen?
Permanente Veränderungen im Tourismus
Bezeichnend für die Tourismusindustrie ist, dass sie sehr innovativ ist und sich schnell wandelt. Die Art und Weise wie Touristen heute reisen unterscheidet sich deutlich von Reisegewohnheiten vor 20 oder sogar vor fünf Jahren. Die Industrie entwickelt sich äußerst dynamisch. Anbieter wie AirBnB sind längst nicht mehr wegzudenken. Sie sind etablierter Bestandteil der Tourismusindustrie und kein neuer Trend mehr. Die globale Studie über Sexuelle Ausbeutung von Kindern auf Reisen und im Tourismus zeigt, dass mehr und mehr Reisende, einschließlich reisender Sexualstraftäter, online Buchungssysteme zur Vermittlung privaten Wohnraums und von Unterkünften nutzen, in immer weiter abgelegene Gebiete reisen und zunehmend Dienstleistungen kleiner lokaler Anbieter gegenüber den großen Ketten und Marken bevorzugen. Der Vormarsch moderner Informations- und Kommunikationsmedien macht junge Reisetrends, wie Voluntourismus oder das Übernachten in Homestays – also im privaten Wohnraum der Gastgeber- erst möglich. Dank neuer Buchungsplattformen für ganze Reisen und Unterkünfte können jedoch auch Täter direkt und anonym mit potenziellen Opfern in Kontakt treten.
Diese Entwicklungen führen dazu, dass sich die Tatorte, an denen Kindern heute sexuell ausgebeutet werden, zunehmend verschieben und ausdehnen– die Bandbreite reicht von kleinen Gästehäusern, in Wohnvierteln abseits der üblichen touristischen Attraktionen, Massagesalons, bis hin zu Einrichtungen, in denen internationale Freiwillige direkt mit Kindern arbeiten. Es bedarf also neuer, breiter aufgestellter Ansätze im Kindesschutz, die die Menschen vor Ort mit einbeziehen. Die im informellen Sektor Beschäftigten können eine Schlüsselrolle bei der erfolgreichen Bekämpfung kommerzieller sexueller Ausbeutung von Kindern in der Reise- und Tourismusindustrie spielen.
Erfahrungen zu Trainings im informellen Sektor
In Costa Rica hat das Internationale Büro für Kinderrechte gemeinsam mit dem nationalen Partner Fundación Paniamor (ECPAT Costa Rica) ein innovatives Projekt durchgeführt. Es richtete sich direkt an Akteure aus dem informellen Sektor: TaxifahrerInnen, BetreiberInnen von Restaurants, lokale Surfer-Gruppen, nicht staatlich geprüfte TouristenführerInnen und VerkäuferInnen auf lokalen Märkten, an Stränden und Touristenattraktionen. Das Projekt lieferte wichtige Einblicke, wie der informelle Sektor erfolgreich in Kindesschutzmaßnahmen einbezogen werden kann.
Zunächst verfolgten wir einen sehr konventionellen Ansatz: wir stellten Material zusammen und boten Schulungen an, um die Menschen aus dem informellen Sektor für das Problem der sexuellen Ausbeutung zu sensibilisieren. Jedoch ohne Erfolg, da wir nicht berücksichtigten, dass der Großteil unserer Zielgruppe nur wenig gebildet war und viele weder Lesen noch Schreiben konnten. Dementsprechend fühlten sie sich mit den vielen Dokumenten unwohl. Außerdem war es unrealistisch von uns zu erwarten, dass sie die Orte, an denen sie ihren Lebensunterhalt verdienten, zu den Hauptgeschäftszeiten verlassen würden, um an unseren Schulungen teil zu nehmen. Zu guter Letzt hatten viele Akteure Angst, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen, da sie zum Teil in legalen Grauzonen agierten, in dem sie z.B. ohne offizielle Erlaubnis arbeiteten oder nicht alle ihre Einnahmen in ihrer Steuererklärung angaben bzw. diese aus nicht-formalisierten Einkommensquellen stammten.
Jugendgruppen als Trainer aufbauen
Im zweiten Anlauf konzentrierten wir uns darauf, mit Jugendgruppen aus den lokalen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten und sie als MultiplikatorInnen auszubilden. Mit Hilfe der jungen Menschen konnten wir Beschäftigte im informellen Sektor direkt an ihrem Arbeitsplatz zu Zeiten erreichen, die für sie günstig waren: TaxifahrerInnen um die Mittagszeit, wenn wenig Nachfrage besteht, RestaurantbetreiberInnen nach dem Mittags- und vor dem Abendgeschäft und StrandverkäuferInnen nach Sonnenuntergang, wenn die meisten TouristInnen bereits in ihr Hotel zurückgekehrt sind. Jede Gruppe wurde entsprechend ihrer besonderen Lebensumstände gezielt angesprochen.
Die Grundidee war es insgesamt drei Trainingseinheiten á 20 Minuten zu konzipieren. Jede Einheit konzentrierte sich wiederum auf maximal drei Kernbotschaften. Die jungen MultiplikatorInnen wiederholten die einzelnen Einheiten mehrfach und stellten sicher, dass jeder Akteur an allen drei Einheiten teilnahm. Die Beschäftigten schätzten die Tatsache, dass die Trainings von den jungen Menschen aus ihren Gemeinschaften durchgeführt wurden, dass die jungen Leute gut ausgebildet und beharrlich waren und zu den Arbeitsorten der jeweiligen Zielgruppe kamen, um die Trainings durchzuführen. Die Trainings waren besonders erfolgreich, weil sie gut zugänglich und kostenlos waren und sehr konkrete Inhalte sowie klare Botschaften beinhalteten.
Neben den TaxifahrerInnen und HändlerInnen identifizierten wir die lokalen Surferinnen und Surfer als eine wichtige Zielgruppe. Die Surfer wurden kaum von den Gemeinschaften als Schlüsselfiguren im Kindesschutz wahrgenommen, noch sahen sich die Surfer selbst in dieser Rolle. Dank der Trainings änderte sich das. Von sich aus gingen sie auf Surfergruppen in anderen touristischen Hotspots zu und gaben die Inhalte und Materialien der Trainings an sie weiter.
Ganzheitliche Multi-Akteurs-Ansätze stärken
Um den informellen Sektor erfolgreich einzubeziehen und langfristige Veränderungen zu bewirken, bedarf es einer innovativen und kreativen Anpassung bestehender Konzepte. Durch den Einbezug der im informellen Sektor arbeitenden Menschen, können wichtige Perspektiven in die Kindesschutzstrategien der Tourismusindustrie integriert werden. Denn die Perspektive des informellen Sektors ist häufig wesentlich näher an den Orten dran, an denen die sexuelle Ausbeutung stattfindet, als der der formalisierten Tourismusindustrie. Es ist also höchste Zeit, den Blickwinkel zu erweitern.
Natürlich bleibt auch der informelle Sektor selbst nur ein Teil der Kräfte, die im Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung mobilisiert werden müssen, um gemeinsam gegen das Problem vorzugehen. Wir brauchen ganzheitliche Ansätze, die auf Vertrauen und Kooperation zwischen allen Akteursgruppen aufbauen: Wie können wir von StrandverkäuferInnen fordern, Verdachtsfälle der Polizei zu melden, wenn diese korrupt ist? Wie können wir von TaxifahrerInnen erwarten, sich an eine Hotline zu wenden, wenn diese ihre Anonymität nicht wahrt? Wie können wir Familien, die ihre Zimmer an Gäste vermietet, davon überzeugen verstärkte Kindesschutzmaßnahmen zu ergreifen, wenn das ihre einzige Einkommensquelle in Gefahr bringt?
Klar ist, dass die Verantwortung der Reiseindustrie, Kinder zu schützen, ein elementarer Bestandteil einer breit angelegten Strategie in einem ganzheitlichen Kinddesschutz-System sein muss. Wenn die Bemühungen der Tourismusindustrie nicht in das ganzheitliche System mit vielen weiteren Akteuren eingebunden werden, sondern weiterhin isoliert bleiben, dann dienen sie zwar dem Marketing der Industrie, aber tragen nur wenig zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern überall auf der Welt bei.
Guillaume Landry ist Direktor des International Bureau for Children’s Rights, einer internationalen Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Montreal, Kanada. Die Organisation möchte lokale Strategien unterstützen und die Beteiligung von Kindern stärken, mit dem Ziel, dauerhaft Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen.
Übersetzung aus dem Englischen von Laura Jäger