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Äthiopiens Kirchen von Lalibela

Der Spagat zwischen Spiritualität und wachsendem Tourismus


von Lea Thin, freie Autorin

Die zwölf Felsenkirchen von Lalibela in Äthiopien sind weltweit als spirituelle und architektonische Wunder bekannt. Aus dem roten Tuffstein des äthiopischen Hochlands gehauen, dienen sie als heilige Stätten der äthiopisch-orthodoxen Kirche. Der Legende nach symbolisieren die Kirchen das „himmlische Jerusalem“. Ihr Design mit labyrinthartigen Gängen und Höfen verstärkt das Gefühl von Heiligkeit und Abgeschiedenheit. Die Zeremonien folgen jahrhundertealten Traditionen, die sich seit dem Bau der Kirchen im 12. und 13. Jahrhundert kaum verändert haben. Ge'ez, eine alte liturgische Sprache, und traditionelle Hymnen prägen die spirituelle Praxis. Barfuß führen Gläubige rituelle Niederwerfungen und Gebete aus, um eine körperliche Verbindung zu den heiligen Stätten herzustellen.

Besonders während wichtiger religiöser Feste wie Genna (äthiopisches Weihnachten) und Timkat (Epiphanie) wird Lalibela zum Zentrum des religiösen Lebens. Tausende Pilger*innen nehmen an nächtlichen Prozessionen und Gebeten teil, die von Priestern in traditionellen Gewändern und mit heiligen Reliquien geleitet werden. Doch seit die Kirchen zu einem Magneten für den Tourismus geworden sind, hat sich das spirituelle Leben der Gemeinschaft stark verändert. „Wo früher ungestörte Andacht herrschte, bringen Tourist*innen nun ein dynamisches, teils störendes Element in diese heilige Atmosphäre“, sagt Dawit Yehualashet Kebede, ein äthiopischer Reiseexperte mit Schwerpunkt Religion und Friedensstudien. „Die täglichen Rituale und Zeremonien gehen weiter, aber die Gemeinschaft musste sich anpassen und bemüht sich, die spirituelle Integrität des Ortes mit den Bedürfnissen der wachsenden Besuchszahlen in Einklang zu bringen.“ So werden Gebetszeiten oft strikt terminiert, um den Bedürfnissen von Gläubigen und Tourist*innen gleichermaßen gerecht zu werden. Einige Einheimische empfinden dies jedoch als eine Verwässerung der Spiritualität, da die Heiligkeit der Stätte zunehmend mit ihrem kommerziellen Erfolg geteilt wird.

Erhalt versus Tradition

Nicht nur die Anwesenheit von Tourist*innen stört spirituelle Praktiken, sondern auch Maßnahmen zum Schutz der alten Bauwerke schränken die Nutzung ein. Durch die vielen Besucher*innen, nutzen sich Flächen der Kirchen viel stärker und schneller ab, als dies in den letzten Jahrhunderten der Fall war. Viele Bereiche sind für die lokale Bevölkerung nicht mehr frei zugänglich, insbesondere während Restaurierungsprojekten. „Der Fußverkehr wird sorgfältig gesteuert, um den physischen Verschleiß der alten Steinoberflächen zu reduzieren. In der Hochsaison werden Einheimische oft auf bestimmte Wege gelenkt, um Schäden zu minimieren,“ erklärt Kebede. Darüber hinaus beeinträchtigt der Ausbau der touristischen Infrastruktur die Landnutzung und damit traditionelle Lebensweisen. Für Praktiken etwa, die große Versammlungen erfordern, wird die Anzahl der Teilnehmenden mittlerweile stark limitiert, um die empfindlichen Strukturen zu schützen. „Diese Einschränkungen sind sowohl praktisch als auch emotional herausfordernd, da die Kirchen durch ein System von Gräben und Tunneln verbunden sind, wobei jede Kirche eine spezifische Bedeutung und Funktion für Rituale hat. Wenn eine oder mehrere Kirchen aufgrund von Tourismuszuwachs und Übernutzung nicht mehr genutzt werden können, werden diese Rituale unterbrochen, und die Verbindung geht verloren.“

Bedrohende Instabilität

Die fragile politische Landschaft Äthiopiens, insbesondere der Konflikt mit der Tigray People’s Liberation Front (TPLF), stellt eine weitere Gefahr dar. Während einer Besetzung durch bewaffnete Kräfte im Jahr 2021 waren die Erhaltung und die Heiligkeit der Kirchen gefährdet. „Erneute oder anhaltende Konflikte könnten Erhaltungsmaßnahmen untergraben, Tourist*innen abschrecken und die lokale Bevölkerung zusätzlich belasten,“ warnt Kebede. Viele Einwohner*innen, einschließlich einiger Geistlichen, flohen aus der Stadt, um der Gewalt zu entkommen. Die verbleibenden Priester standen unter enormem Druck, da die heiligen Stätten zu Konfliktzonen wurden. „Doch obwohl das soziale Leben und jede Form von Normalität gestört waren, wurden die religiösen Zeremonien weiter durchgeführt. Das zeigt deutlich die Widerstandskraft und Hingabe der Geistlichen, aber auch der Gläubigen in Lalibela“.

Der Tourismus kann eine Schlüsselrolle beim Schutz der heiligen Stätten spielen, indem er internationale Aufmerksamkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit schafft. „Der Konflikt mit der TPLF hat den Krieg gefährlich nah an dieses UNESCO-Weltkulturerbe gebracht. Diese Bedrohung hob die Bedeutung von Lalibela hervor und übte Druck auf alle Konfliktparteien aus, die Heiligkeit der Stätten zu respektieren,“ sagt Kebede. Einnahmen aus dem Tourismus könnten für Sicherheitsmaßnahmen, Erhaltungsarbeiten und Infrastrukturausbau verwendet werden, um potenzielle Schäden zu mindern. „Auch der Klimawandel stellt eine wachsende Bedrohung dar, die den Verfall der Felsenkirchen beschleunigt: Steigende Temperaturen, zunehmende Regenfälle und Erosion sind Herausforderungen, denen sich Restaurateure stellen müssen,“ fügt Kebede hinzu.

Wirtschaft und Spiritualität in Einklang bringen

Lalibela ist ein Ort, an dem Spiritualität und globale Interessen aufeinandertreffen. Der Tourismus hat das Bewusstsein für Lalibelas kulturelle und spirituelle Bedeutung weltweit geschärft und wesentliche wirtschaftliche Vorteile für die lokale Bevölkerung gebracht. Einnahmen aus Eintrittsgeldern und Spenden haben Restaurierungsprojekte ermöglicht und so den Erhalt der Kirchen gesichert. „Die Gemeinschaft profitiert von besserer Infrastruktur wie Straßen, Gesundheitsversorgung und Bildungsangeboten, die durch den Tourismus vorangetrieben wurden. Viele Bewohner*innen haben Arbeit im Tourismussektor gefunden, sei es als Reiseführer*in, im Hotel, im Kunsthandwerk oder in anderen Dienstleistungen. Dies hat die lokale Wirtschaft gestärkt und die Armut verringert,“ erklärt Kebede.

Trotz der Vorteile belastet der zunehmende Tourismus die spirituellen Praktiken der lokalen Gemeinschaft. Nachhaltige Lösungen sind erforderlich, um Lalibelas heilige Essenz zu schützen und gleichzeitig seine globale Bedeutung zu bewahren. Lokale Reiseführer*innen spielen eine Schlüsselrolle, indem sie Besucher*innen über die religiöse Bedeutung der Stätten aufklären. „Mein Großvater war der Priester in der Sankt Gabriel Kirche, einer der zwölf Felsenkirchen. Für ihn hat der Tourismus die Spiritualität der Kirchen negativ beeinflusst,“ sagt Daniel Shewalem. Er ist in Lalibela geboren und führt regelmäßig internationale Tourist*innen durch die heilige Stätte. „Wenn ich die Kirchen zusammen mit Besucher*innen betrete, achte ich darauf, dass sie Respekt zeigen und die Spiritualität wahren, etwa durch das Tragen weißer Kleidung oder das Küssen des Steins beim Betreten der Kirchen. Ich fordere sie auf, sich angemessen zu kleiden: keine kurzen Hosen und Bedeckung der Haare für die Frauen.“ Zusätzlich zu den Bemühungen der lokalen Bevölkerung fördert die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche den Schutz der Heiligkeit der Stätten, etwa durch Fotografierverbote während der Zeremonien oder eingeschränkten Zugang für Nicht-Gläubige zu bestimmten Zeiten. Maßnahmen wie diese helfen, den spirituellen Geist der Kirchen zu bewahren, damit Lalibela ein lebendiges Zentrum des Glaubens und der Kultur bleibt.