Von Lea Thin, freie Autorin
Antje Monshausen hat die Arbeit von Tourism Watch mehr als ein Jahrzehnt lang mitgeprägt. Heute ist sie Geschäftsführerin bei ECPAT Deutschland. Im Gespräch blickt sie zurück auf über 15 Jahre Tourism Watch, die Bedeutung von Kinderschutz für den Sektor und die Zukunft nachhaltiger Tourismusbildung.
Frau Monshausen, Sie haben Tourism Watch seit den Nullerjahren begleitet. Gab es Momente, von denen Sie heute sagen: Da haben wir wirklich etwas bewegt?
Antje Monshausen: Als ich 2008 bei Tourism Watch angefangen habe, steckte das Thema Unternehmensverantwortung für Menschenrechte allgemein noch in den Kinderschuhen – doch Tourism Watch hatte das Thema schon voll auf der Agenda. Erst ein paar Jahre später verabschiedete die UN ihre Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Viele begannen sich zu fragen: Was bedeutet Due Diligence1 überhaupt konkret? Tourism Watch hat in dieser Zeit maßgeblich dazu beigetragen, dieses theoretische Konzept für den Tourismus in die Praxis zu übersetzen. Und zwar nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern durch vertrauensvolle Netzwerke mit Unternehmen, Verbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Aus dieser Arbeit ist letztlich der Roundtable Human Rights in Tourism entstanden – heute ein eingetragener, gemeinnütziger Verein und eine internationale Multi-Stakeholder-Initiative. Dass es gelungen ist, ein solches Instrument aus der Zivilgesellschaft heraus aufzubauen, sehe ich als einen der größten Erfolge.
Ein weiterer bedeutender Meilenstein war die Transforming Tourism Initiative. Sie entstand im Rahmen des umfassenden UN-Prozesses zu den SDGs 2015 und der Agenda 2030 und brachte NGOs aus aller Welt zusammen, um eine klare Vision dafür zu entwickeln, wie der Tourismus im Jahr 2030 aussehen muss: ein Sektor, der Einkommensgleichheit fördert, das Klima schützt und die Rechte indigener Gemeinschaften, von Frauen und Kindern wahrt. Diese Vision wurde anschließend der Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen sowie zahlreichen weiteren Akteuren der Branche vorgestellt und verankerte damit zivilgesellschaftliche Perspektiven fest in den globalen Debatten. Als die Pandemie den weltweiten Reiseverkehr zum Erliegen brachte, zeigte sich der Wert der Initiative erneut. Sie wurde zu einem zentralen Forum, in dem NGOs in Kontakt bleiben, Wissen austauschen und einen Neustart des Tourismus einfordern konnten, der auf sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit basiert.
Heute arbeiten Sie bei ECPAT Deutschland, einer Organisation, die sich gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern einsetzt. Sie hatten jedoch auch zu Tourism Watch-Zeiten mit ECPAT zu tun...
AM: Beides hat gemeinsame Wurzeln. Als die Fachstelle Ferntourismus, die Vorgängerin von Tourism Watch, gegründet wurde, kamen die Impulse von Kirchen aus Asien und der Karibik. Dort hatte man an den negativen Folgen des internationalen Tourismus gelitten und appellierte an die Kirchen in den Sendeländern, Reisende besser vorzubereiten – ökologisch, kulturell und ethisch. Themen wie Umweltschäden, Kolonialismus, kultureller Respekt oder eben Kinderschutz waren von Anfang an präsent. ECPAT entstand später aus einer globalen Kampagne. Das Akronym stand ursprünglich für „End Child Prostitution in Asian Tourism“. Heute ist ECPAT ein weltweites Netzwerk, das sämtliche Formen sexueller Ausbeutung von Kindern bekämpft. Beide Organisationen – Tourism Watch und ECPAT – arbeiten bis heute eng zusammen, vereint durch die Idee, dass die Perspektiven der Betroffenen selbst im Mittelpunkt stehen müssen.
Wo stehen wir beim Thema Kinderschutz im Tourismus im Jahr 2025? Was hat sich verbessert, was nicht?
In Deutschland war die Diskussion über sexualisierte Gewalt im Tourismus bis Mitte der 2000er fast ein Tabu. Viele Reiseveranstalter wollten das Thema nicht ansprechen, aus Angst, es könne auf sie zurückfallen. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass Täterinnen und Täter die Infrastruktur des Reisens ausnutzen – und dass der Tourismus damit auch Möglichkeiten hat, gegenzusteuern. Heute ist das Tabu gebrochen, aber der Weg ist lang. Unternehmen und Regierungen gehen offener mit dem Problem sexualisierter Gewalt an Kindern um, aber wir dürfen uns nichts vormachen: Von rund 2.000 deutschen Reiseveranstaltern haben nur etwa 20 den internationalen Kinderschutzkodex unterzeichnet. Das zeigt, wie groß der Nachholbedarf bleibt – global, aber auch in Deutschland. Denn auch hierzulande werden Hotels zu Tatorten. Das ist ein fast noch unbekanntes, tabuisiertes Thema. Hier haben wir auch in Deutschland noch viel zu tun.
Warum ist die Zahl der unterzeichnenden Reiseanbieter so niedrig? Liegt es am Aufwand oder am fehlenden Bewusstsein?
Beides spielt eine Rolle. Der Kinderschutzkodex verlangt von Unternehmen konkrete Maßnahmen: Risikoanalysen, Schulungen für Mitarbeitende, Information der Reisenden, klare Meldeverfahren. ECPAT begleitet diese Prozesse mit Trainings, Flyern und Schulungsmaterialien. Wer unterschreibt, bekommt Unterstützung – aber der Kinderschutzkodex ist keine Alibiverpflichtung. Verantwortung soll sichtbar werden, und das braucht Mut. Denn auch heute noch gibt es Führungskräfte und Mitarbeiter*innen, die seit 30 Jahren im Tourismus arbeiten, ohne je über Kinderschutz gesprochen zu haben – und das darf einfach nicht sein. Viele Unternehmen sagen: „Wir haben keine Fälle“, statt sich zu fragen, ob sie überhaupt über geeignete Melde- oder Analyseverfahren verfügen. Wer keine Risikoanalyse macht, sieht auch kein Risiko. Da brauchen wir eine viel größere Sensibilisierung für das Thema. Als ECPAT bilden wir deshalb angehende Tourismusfachkräfte aus. In den letzten 20 Jahren haben wir rund 15.000 Studierende an Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten erreicht. Viele von ihnen tragen das Thema später in die Unternehmen hinein. Auch deshalb sehen wir heute ein gesteigertes Bewusstsein, wenn es um den Schutz von Kindern im Tourismus geht.
Also sind im Tourismus heute weniger Kinder betroffen von sexualisierter Gewalt?
Wir sehen Licht und Schatten. Das Bewusstsein ist gestiegen, professionelle Strukturen bei Polizei, Fachberatungsstellen und Unternehmen haben sich verbessert. Aber die Digitalisierung hat parallel neue Formen der Ausbeutung möglich gemacht. Wir beobachten reisende Sexualstraftäter(*innen)2, die Missbrauchsdarstellungen während der Reise aufnehmen und online verbreiten. Noch häufiger sind heute digitale Anbahnungen: Täter(*innen) nehmen vor der Reise über soziale Medien Kontakt zu Kindern und ihren Familien auf, um Vertrauen zu schaffen und später vor Ort Zugang zu ihnen zu bekommen. In meinem eben erschienenen Artikel „Digitale Anbahnung, lokale Ausbeutung“ finden sich aktuelle Beispiele aus aller Welt. Die Kombination aus Mobilität und digitalem Raum wirkt hier wie ein Brandbeschleuniger.
Wenn Sie auf die Zukunft blicken: Welche Themen und Zielgruppen werden für Tourism Watch künftig besonders wichtig sein?
Tourism Watch bleibt auch in Zukunft unverzichtbar. Wir haben in den letzten 15 Jahren gesehen, dass Vertrauen und Kooperation tatsächlich Veränderung schaffen können. Tourism Watch hat vor allem die Unternehmen als zentrale Akteure adressiert – das bleibt notwendig. Zugleich müssen wir anerkennen, dass das Reisen vielfältiger geworden ist. Immer mehr Menschen buchen online und sind individuell unterwegs. Und gerade mit Blick auf Länder des globalen Südens reisen auch Menschen für Praktika, Entwicklungsdienste oder Studiensemester ins Ausland – ein weiterer Risikobereich sind Dienstreisen. Diese Gruppen brauchen neue, passgenaue Bildungsangebote. Die künftige Bildungsarbeit muss daher neue Multiplikatorinnen und Multiplikatoren einbinden: nicht nur Reiseunternehmen, sondern auch Hochschulen, Geldgeber*innen für Förderprogramme, Austauschinstitutionen oder Firmen, die internationale Dienstreisen organisieren.
Auch wenn bei ECPAT unser Hauptthema Kinderschutz ist, ist es wichtig, dass Tourism Watch alle Themen bedient. Unternehmen neigen dazu, sich nur die Rosinen herauszupicken: In den Jahren vor der Pandemie stand der Klimaschutz im Vordergrund, danach verschob sich der Fokus stärker auf soziale Fragen wie Arbeitsbedingungen oder Fachkräftemangel. Unternehmen greifen das auf, was sich fürs Geschäft leichter umsetzen lässt oder was gerade öffentlich viel Aufmerksamkeit bekommt. Tourism Watch dagegen muss dafür sorgen, dass kein Thema, sei es Menschenrechte, Klima, Gleichberechtigung oder Kinderschutz, aus der Aufmerksamkeit verschwindet. Dabei helfen die vielfältigen Verbindungen in die Zivilgesellschaft in vielen Ländern des globalen Südens. Die Themen, die dort für die Menschen wichtig sind, muss Tourism Watch auch in Zukunft nach vorne stellen.
1Prüfpflicht von Unternehmen, ob ihre Tätigkeiten Menschenrechte verletzen könnten, und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um solche Risiken zu verhindern oder zu mindern.
2Wir nutzen den Terminus und die Schreibweise „Täter*(innen)“, da in offiziellen Statistiken regelmäßig mehr als 85% der Täter von Sexualdelikten gegen Kinder männlichen Geschlechts sind. Gleichzeitig gibt es auch weibliche Täterinnen oder Täter*innen, mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität. Sie können selbst sexualisierte Gewalt ausüben oder eine - oft übersehene – Rolle in der Zuführung von minderjährigen Betroffenen spielen.





