Von Sebastian D. Plötzgen
Die Tourismusindustrie spielt eine Schlüsselrolle in der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Sie generiert Deviseneinnahmen, schafft Arbeitsplätze und fördert den kulturellen Austausch. Kommt es zu Konflikten oder anderen Krisen, bleiben gerade internationale Reisende oft schlagartig aus und der Sektor kommt zum Erliegen. So wirken sich Krisen und Konflikte gleich doppelt negativ aus – die gesellschaftlichen und individuellen Katastrophen eines Konflikts werden verstärkt durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch. Auch international unterstützte Projekte im Tourismusbereich werden häufig eingestellt oder auf Eis gelegt. Doch gerade in Krisenzeiten können Projekte der internationalen Entwicklungszusammenarbeit dabei helfen sicherzustellen, dass der Tourismussektor fortbesteht, widerstandsfähig bleibt und nach Krisenende maßgeblich zur Erholung und zum Friedensaufbau beitragen kann.
Tourismusprojekte auch ohne Reisende unterstützen
In Krisenzeiten hingegen wird die internationale Entwicklungszusammenarbeit in Tourismusprojekten häufig ausgesetzt. Ausschlaggebend sind dafür zwei Annahmen:
- Tourismusprojekte seien ohne Reisende sinnlos.
- Die Unterstützung eines „Freizeitsektors“ während einer Krise wirke deplatziert, da finanzielle Mittel besser in humanitäre Soforthilfe oder andere Bereiche fließen sollten.
Diese Überlegungen verkennen jedoch, dass die touristische Infrastruktur und die Arbeitskräfte auch dann weiterhin „vor Ort“ sind, wenn Tourist*innen ausbleiben. Hotels, Restaurants, Transportunternehmen, Sehenswürdigkeiten etc. verschwinden nicht, auch wenn sie vorübergehend ungenutzt sind. Der Tourismussektor bleibt ein wesentlicher Bestandteil der lokalen Wirtschaft. Das Einstellen von Projekten während Krisenzeiten ignoriert zu oft die vielen Arbeitskräfte, die auf den Tourismus als Einkommensquelle angewiesen bleiben.
Anstatt Projekte einzustellen, sollte die internationale Entwicklungszusammenarbeit einen entgegengesetzten Ansatz verfolgen. Gerade in Krisenzeiten gilt es, den Tourismussektor gezielt zu unterstützen, um eine schnelle Erholung sicherzustellen, sobald wieder mehr Stabilität herrscht.
Mögliche Maßnahmen, die insbesondere während einer Krise und bei Ausbleiben von Reisenden sinnvoll umgesetzt werden können, sind zum Beispiel:
- „Cash-for-Training“-Programme, um Tourismusmitarbeiter*innen weiterhin zu beschäftigen, im Sektor zu halten und ihren Lebensunterhalt zu sichern, während sie ihre Fähigkeiten in Bereichen wie Fremdsprachen oder digitalem Marketing ausbauen.
- Digitale Tourismusformate wie 360°-Videos und virtuelle Touren ermöglichen es, kulturelles Erbe zu bewahren und Destinationen im Gedächtnis der Reisenden zu halten, auch wenn physische Reisen aktuell nicht möglich sind. Wenn es die Umstände erlauben und technisch machbar ist, bieten online gestreamte Live-Berichte, etwa von Reiseführer*innen, eine effektive Möglichkeit, den Kontakt ins Ausland aufrechtzuerhalten. Tourismus lebt von Austausch, Begegnung und Kommunikation; für viele ein entscheidender Grund in diesem Bereich zu arbeiten. Brechen die täglichen Kontakte mit Reisenden plötzlich weg, hat dies nicht nur wirtschaftliche Folgen, sondern auch psychologische Auswirkungen auf die Menschen vor Ort. Digitale Formate können hier eine Brücke aufrechterhalten und in einer ohnehin schon schwierigen Situation zumindest moralische Unterstützung bieten.
- In Zeiten ohne aktiven Tourismus lassen sich Dokumentationsprojekte sonst hoch frequentierter kultureller Stätten durchführen. In Situationen, wo der physische Erhalt kulturellen Erbes bedroht ist, können solche Projekte die letzte Chance sein, dieses zumindest digital zu erhalten. Hier ist zügige Umsetzung gefordert, da die Zeitfenster sehr kurz sein können. Wichtig ist, dass die Dokumentation mit und durch die Lokalbevölkerung erfolgt, um deren Geschichten und Erinnerungen festzuhalten. Ist die Lage (noch) hinreichend stabil, kann ein von der Lokalbevölkerung getragener Dokumentationsprozess auch dazu beitragen, Überlegungen anzustoßen, wie Geschichte, Kultur, Traditionen zukünftig präsentiert werden können.
- Technische Unterstützung und Beratung bei der Erschließung neuer regionaler Märkte, die das Ausbleiben internationaler Besucher*innen durch verstärkten regionalen Tourismus ausgleichen. Solche Anpassungen können helfen, während Krisenzeiten einen Teil der Tourismuseinnahmen zu erhalten. Die internationale Entwicklungszusammenarbeit kann mit technischer Hilfe und Expertise dazu beitragen, diese Übergänge erfolgreich zu gestalten, während gleichzeitig die ursprünglichen Quellmärkte im Blick behalten werden.
Tourismus: Impulsgeber für Wirtschaftsentwicklung und Friedensförderung
Das Potential des Tourismus, wirtschaftliche Entwicklung und sozialen Zusammenhalt zu fördern, macht ihn zu einem wirkungsvollen Instrument des Wiederaufbaus und der Friedensförderung.
Nach einer Krise, ob menschengemacht oder naturbedingt, ist der Tourismussektor häufig einer der ersten Bereiche, die sich erholen. Er schafft Arbeitsplätze, zieht ausländische Investitionen an und treibt den Infrastruktur(wieder)aufbau voran. Im Vergleich mit anderen Wirtschaftssektoren, hat die Tourismusindustrie dabei entscheidende Vorteile:
- Sie greift auf einen riesigen Quellmarkt zu. Globale Mobilität ermöglicht es Reisenden aus praktisch jedem Land, jedes andere Land zu besuchen, oft ohne langfristige Planung.
- Gerade Destination, die krisenbedingt über einen längeren Zeitraum unerreichbar waren, erscheinen umso attraktiver, sobald Reisen wieder möglich sind; oft steigen die Gästezahlen rasch und deutlich an.
- Im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbereichen benötigt Tourismus gerade in einer Pionierphase nur eine grundlegende Infrastruktur und Kerndienstleistungen wie Transport und Gesundheitsversorgung und kann so recht zügig wieder angefahren werden.
Insbesondere Tourismusprojekte mit starker lokaler Beteiligung könnten dazu beitragen, ehemals verfeindete Gruppen zusammenzuführen. Gut aufgesetzte Tourismusprojekte bieten auch die Möglichkeit, das eigene lokale oder nationale kulturelle Erbe neu zu entdecken, Sichtweisen zu verändern und neu zu präsentieren.
Tourismus ist ein wichtiger Baustein einer friedlicheren Entwicklung
Die Tourismusindustrie kann ein wichtiger wirtschaftlicher Motor sein, der den sozialen Zusammenhalt stärkt und maßgeblich zum Friedensaufbau beiträgt, insbesondere in Krisen- und fragilen Nachkonfliktsituationen. Verantwortungsvolles Management, ein klarer Fokus auf Nachhaltigkeit und die Berücksichtigung sozialer Auswirkungen, gerade auch im Kontext fortbestehender gesellschaftlicher Spannungen sind dabei entscheidend.
Politische Entscheidungsträger*innen sollten sich auch in Krisenzeiten entschieden für die Unterstützung des Tourismussektors einsetzen und die vorhandenen Instrumente nutzen, um Ländern und Gemeinschaften den Weg zu einer schnelleren Erholung zu ebnen.
Internationaler Reiseverkehr hat die einzigartige Fähigkeit, Menschen zu vereinen und Volkswirtschaften anzukurbeln – es ist wichtig, sich seines Potenzials gerade in Krisenzeiten bewusst zu bleiben, auch wenn Frieden und Versöhnung in weiter Ferne scheinen.
Zum Autor: Sebastian D. Plötzgen ist Tourismusexperte und freiberuflicher Berater. Er hat fast ein Jahrzehnt in krisengeprägten Destinationen im Nahen Osten gelebt und gearbeitet und sich darauf spezialisiert, den Tourismus als Instrument für wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbau widerstandsfähiger Gemeinschaften zu nutzen. Als graduierter Theologe berät er zudem Religionsgemeinschaften bei der Nutzung ihrer Stätten für kulturellen und religiösen Tourismus.