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"Rigorosen Tourismuskritikern Zügel anlegen"

Badeurlaub ohne Grenzen


Mit Überlegungen zur Sozial- und Umweltverträglichkeit hält sich der Münchener Soziologe Walter Kiefl in seinem "Plädoyer für den ganz normalen Bade- und Pauschaltourismus“ nicht auf. Nicht das Interesse an "fremden Kulturen“ stehe für die meisten Touristen im Vordergrund, sondern die "zeitweilige Überschreitung sozialer Schranken, die ersehnte Befreiung von Alltagszwängen, Tabus und Routinen und die Sehnsucht nach einer entsprechenden Gegenwelt“. Wenigstens einmal im Jahr die Sau raus lassen, ohne für die Folgen des eigenen Handelns verantwortlich gemacht zu werden. Reisen sei neben der Suche nach dem Glück (welchem?) auch "Ventilsitte“, d.h. ein institutionalisierter Ausweg für unstatthafte Bedürfnisse, die normalerweise im Interesse eines konfliktarmen Miteinanders unterdrückt werden.

Hierin sieht der Autor nichts Unstatthaftes. Sollte es angesichts derartiger Ventilausstöße tatsächlich einmal zu Protesten der Bevölkerung kommen, sei dies eine ärgerliche Panne. Für Tourismusplaner und Veranstalter sei es wichtig, "der Bevölkerung in den Zielregionen die Vorteile einer touristischen Erschließung (Erhöhung des Bruttosozialprodukts, Schaffung von Arbeitsplätzen usw.) nahe zu bringen und allzu rigorosen Tourismuskritikern im allgemeinen Interesse Zügel anzulegen“.

Eigene Untersuchungen, um die der Autor einige seiner bereits an anderer Stelle publizierten Aufsätze herum gruppiert hat, werfen kaum mehr als Bekanntes ab. Dass zwischen den artikulierten Urlaubsaktivitäten und den tatsächlichen Handlungen der Touristen Lücken klaffen, dass der Strand als Bühne zur Selbstdarstellung genutzt wird, sind alte Hüte. Und das Ergebnis der eigenen Untersuchung, dass nämlich kein Strand dem anderen gleiche, hätte dieses Buch ebenfalls nicht gerechtfertigt.

Kiefl gefällt sich in der Rolle des vehementen Kritikers der "Tourismuskritik“ – hat aber in seiner Argumentation die Entwicklung der letzten zehn Jahre offenbar verschlafen. Das von ihm kritisierte Schwarz-Weiß-Raster – hier: die guten Individualreisenden, dort: die blöden Pauschaltouristen – gehört lange der Vergangenheit an und ist einer sehr viel differenzierteren Betrachtungsweise gewichen. Ein Blick in das Buch von Harald A. Friedl könnte diesbezüglich für ein 'Update‘ genutzt werden (immerhin sind beide Bücher im selben Verlag erschienen), vgl. auch Rezension "Tourismusethik" in TW 28.

Der gescheiterte Versuch Kiefls ist um so bedauerlicher, als er sich ja tatsächlich der größten Gruppe im Pauschalreisemarkt, nämlich der Badetouristen angenommen hat. Gerade hier wären weitere Untersuchungen im Hinblick auf eine nachhaltigere Ausrichtung des Tourismusmarktes dringend notwendig. Nach wie vor scheint es jedoch interessanter, sich mit den leichter einzugrenzenden Nischensegmenten zu beschäftigen.

(2.786 Anschläge, 34 Zeilen, Dezember 2003)

Kiefl, Walter: "Schlaraffenland, Bühne und Ventil. Ein Plädoyer für den ganz normalen Bade- und Pauschaltourismus", Profil Verlag, München 2002, 135 Seiten, ISBN 3-89019-498-2