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Krisen gemeinsam bewältigen

TODO-Preisträger 2020: Esfahk Historical Village im Iran


Titelbild Gemeindebasierter Ökotourismus im Dorf Esfahk

Jeden Abend vor Einbruch der Dunkelheit geht Ali Hassanzade (35) seine Runde durchs Dorf und platziert Petroleumlaternen entlang der Gehwege. Auf die Verwendung von elektrischen Leuchten wird im Esfahk Historical Village bewusst verzichtet, um den freien Blick auf den Sternenhimmel über der Wüste nicht zu verschmutzen.

Iraner*innen sind an Krisen gewöhnt: Politische Instabilität, internationale Handelssanktionen, Erdbeben, Wasserknappheit, und jetzt auch noch Covid-19. Zudem macht die hohe Abhängigkeit von der Landwirtschaft ländliche Gegenden besonders anfällig für Einflüsse von außen. Ein Hauptproblem ist die anhaltende Landflucht. Der Tourismus gilt als Möglichkeit, ländliche Gebiete zu stärken. Das Dorf Esfahk zeigt, wie das funktionieren kann, ohne dass neue Abhängigkeiten entstehen.

Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte sind im Schnitt eine Million Iraner*innen in die Städte gezogen. Mehr als die Hälfte der 64.000 Dörfer des Landes sind fast verlassen. Um diesem Trend entgegenzuwirken, steht der Agrotourismus ganz oben auf der tourismuspolitischen Agenda. Dadurch sind in den vergangenen Jahren immer mehr lokale Unterkünfte entstanden.

Während in anderen Dörfern lokale Pensionen von Einzelpersonen betrieben werden, wollten die 800 Bewohner*innen von Esfahk nach einer gemeinsamen Lösung suchen. Ihr Oasendorf 550 Kilometer südöstlich von Teheran war 1978 durch ein Erdbeben der Stärke 7,4 zerstört worden und die historischen Lehmbauten lagen in Trümmern. Daraufhin wurde 700 Meter vom alten Dorf entfernt ein neues Dorf errichtet.

Nachdem die Ruinen des alten Esfahk 30 Jahre lang nicht genutzt worden waren, rückten sie 2009 wieder ins Zentrum des Interesses. Indem die Dorfbevölkerung sich auf einen offenen Dialog einließ und externe Beratung in Anspruch nahm, gelang es, aus dem alten Dorf ein touristisches Gemeinschaftsprojekt zu machen.

Ein partizipativer Ansatz

Die Idee, das alte Dorfzentrum zu restaurieren, führte zu Diskussionen, die zunächst ohne Ergebnis blieben. Viele der Jüngeren in Esfahk sahen die Chance, ihr Einkommen zu verbessern und das kulturelle Erbe des Dorfes wiederzubeleben. Viele Ältere hatten aber noch immer das Erdbeben in Erinnerung oder äußerten Bedenken, der Tourismus könne im Dorf negative Auswirkungen haben. Tatsächlich haben sich viele iranische Dörfer auf den Tourismus eingelassen, ohne einen Plan oder Managementstrukturen dafür zu haben. Das hat in vielen ländlichen Gemeinden zu neuen Problemen geführt, wie der Übernutzung natürlicher Ressourcen, der Konkurrenz um Gäste, der Kommerzialisierung lokaler Bräuche oder gesellschaftlicher Entfremdung innerhalb der Gemeinschaften.

In Esfahk ergriff eine Gruppe junger Leute gemeinsam mit dem Bürgermeister die Initiative. Sie konsultierten Experti*nnen für Tourismus und Denkmalschutz sowie die iranische Kulturbehörde in Teheran. Mit ihrer Hilfe begannen sie mit der Restaurierung. Traditionelles Wissen wurde wiederbelebt und mit modernen Techniken auf den neusten Stand gebracht. Dies führte zu den ersten erdbebensicheren Lehmbauten in Esfahk. Die vielversprechenden Ergebnisse überzeugten immer mehr Dorfbewohner*innen, sich an dem Projekt zu beteiligen und aktiv über die Vor- und Nachteile des Tourismus für ihr Dorf mitzudiskutieren.

Als die Dorfgemeinschaft schließlich 2015 die Entscheidung traf, den alten Dorfkern zu restaurieren, war das Projekt bereits zu einer partizipativen Aufgabe für das gesamte Dorf geworden. Es folgte einem professionellen Ansatz und verfügte über ein klares Leitbild.

Gemeindebasierter Ökotourismus

Heute können bis zu 100 Gäste in sieben restaurierten Wohnhäusern authentische Erfahrungen mit dem Leben in der Wüste machen. Im vergangenen Jahr hatte Esfahk rund 3500 Gäste. Sie begleiteten Bäuerinnen und Bauern auf die Felder, lernten lokale Speisen zuzubereiten und Kunsthandwerk herzustellen. Student*innen aus Teheran, Italien und Frankreich nahmen an Architektur-Workshops im dorfeigenen Lehmbau-Zentrum teil.

Durch den Umgang mit iranischen und ausländischen Gästen haben die Einheimischen begonnen, sich wieder mit ihrem ländlichen Lebensstil zu identifizieren. Jede und jeder in Esfahk wird ermutigt, sich an dem Projekt zu beteiligen, zu investieren oder Verantwortung zu übernehmen. Um einen Ausverkauf von lokalem Eigentum und Gebräuchen zu vermeiden, sind externe Investoren ausgeschlossen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten kehrten einige der einst abgewanderten Einwohner*innen aus den Städten zurück, um sich an dem Projekt zu beteiligen. Sie brachten Know-how mit und sorgten für eine demografische Stabilisierung in Esfahk.

Inzwischen sind etwa 70 Personen an dem Projekt beteiligt. Statt miteinander um Gäste zu konkurrieren, basiert das Projekt auf Teamarbeit, das Allgemeinwohl steht dabei über dem Interesse der Einzelnen. Ein gemeinsam entwickelter Plan regelt die gerechte Aufteilung der Einnahmen unter allen Beteiligten.

Esfahk lebt jedoch weiterhin hauptsächlich von der Landwirtschaft. Die Dorfgemeinschaft hat beschlossen, Tourismus nur als Nebenerwerb zu betreiben, um auch außerhalb der Saison Einkommen zu generieren und den traditionellen Lebensstil zu erhalten.

Diese Strategie ist gerade jetzt von entscheidender Bedeutung. 2020 wurde der Tourismussektor des Landes bereits erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Im Frühjahr folgte auf einen Covid-19-Ausbruch in großen iranischen Städten ein allgemeines Reiseverbot. Auch schon zuvor hatten die politischen Spannungen zwischen Iran und den USA zu einem Wirtschaftsabschwung geführt. Einige Unterkünfte im Land mussten bereits schließen. Obwohl die Regierung die Reisebeschränkungen vor kurzem aufgehoben hat, sieht sich Esfahk nicht unter Druck, schnell wieder zu öffnen. Stattdessen kümmern sich die Dorfbewohner*innen um die Familienfelder und um die ökologischen Grenzen des Projekts. Derzeit werden Abwassertanks zur Wasseraufbereitung installiert, um Abwässer zur Bewässerung in der Landwirtschaft nutzbar zu machen.

Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße Esfahk langfristig als Modell für die Entwicklung ländlicher Regionen im Iran dienen kann. Die Dorfgemeinschaft hat es jedoch geschafft, den Tourismus so zu etablieren, dass sich dadurch die Resilienz des Dorfes gegen Krisen stärken ließ.

 

Salome Ghodsi-Moghaddam ist Stadtplanerin und Mitbegründerin von IRANCLOSER Journeys, Fachanbieter für sozial- und kulturbezogene Reisen in Iran. Sie lebt in Teheran.

Esfahk Historical Village ist eines der Gewinner-Projekte des TODO Awards Sozialverantwortlicher Tourismus 2020. Da die Internationale Tourismusbörse (ITB) als Veranstaltungsort der Preisverleihung in diesem Jahr abgesagt wurde, sollen die Preisträger*innen  auf der nächsten ITB in Berlin gemeinsam mit den TODO-Projekten von 2021 ausgezeichnet werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp