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Frauen in der Wertschöpfungskette

Gleichberechtigung durch ländlichen Tourismus in der Türkei


Ein Urlaubsort mit diversifizierter Wirtschaftsstruktur und einer sorgsam geplanten Wertschöpfungskette kann Frauen die Chance auf einen fairen Anteil an der touristischen Entwicklung eröffnen. Das gilt auch in armen ländlichen Gegenden in der Türkei, wo der Verband Yeşil Valiz mit Männern und Frauen daran arbeitet, Geschlechterverhältnisse neu auszuhandeln. Er bereitet zudem die Landfrauen auf politische Partizipation vor. Die Türkei ist ein Urlaubsland mit berühmten  Kulturerbestätten, reicher Natur und einer zwölfmonatigen Tourismussaison. Nach Angaben des World Travel & Tourism Council trug der Tourismus in der Türkei 2015 mit 2.209.500 Arbeitsplätzen 8,3 Prozent zur Beschäftigung bei.

Doch immer wieder erweist sich die Branche als krisenanfällig. Terroranschläge, die anhaltende diplomatische Krise mit Russland und Sicherheitsbedenken im Südosten haben 2015 zu einem dramatischen Rückgang der Touristenzahlen geführt. Die Branche muss die Krise als Chance nutzen und neue Modelle entwickeln, statt am All-inclusive-Konzept festzuhalten. Die Beschäftigten im Tourismus kann man nur schützen, indem man in den Zielgebieten belastbare Wertschöpfungsketten schafft. Der Tourismus schafft Arbeitsplätze auf allen Qualifikationsstufen, nicht nur direkt im Tourismus, sondern auch in anderen Wirtschaftsbereichen wie der Landwirtschaft, dem Bausektor, der Produktion oder dem Kunsthandwerk. In vielen Regionen der Türkei sind durch den Tourismus die Zielgebiete jedoch von Männern dominiert und die Frauen verrichten weiterhin Hausarbeit, jedoch in Pensionen anstatt in ihren eigenen Häusern. In anderen Orten hat der Tourismus es Außenstehenden ermöglicht, ganze Orte zu übernehmen. Die einheimischen Frauen werden dabei ans unterste Ende der Wertschöpfungskette verwiesen, wo die Löhne am niedrigsten sind.

Der Tourismus könnte anteilig mehr Frauen beschäftigen und ihnen unternehmerische Möglichkeiten eröffnen als andere Wirtschaftssektoren. Somit wäre die Branche prädestiniert, Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern zu fördern. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind in der Türkei nur 30 Prozent der Frauen bezahlt beschäftigt. Seit 14 Jahren sind beschäftigungspolitische Handlungskonzepte allein auf die Familie fokussiert. Sie betonen die Bedeutung von Ehe und Mutterschaft und wollen Frauen im Haushalt in ihren traditionellen Rollen halten, statt Geschlechtergerechtigkeit zu fördern. In ländlichen Gebieten stellt sich die  Situation besonders krass dar.

Tourismus als Rettungsleine

In dieser Situation scheint der ländliche Tourismus wie eine Rettungsleine. Durch das zunehmende Interesse daran besteht eine hervorragende Möglichkeit, die formelle Beschäftigung von Frauen in den Dörfern zu erhöhen und die Einheimischen zu ermutigen, weiter Landwirtschaft zu betreiben. Ländlicher Tourismus findet naturgemäß an besonders traditionell geprägten Orten statt, wo die mächtige Ideologie der Geschlechtertrennung alle Lebensbereiche dominiert. Laut Yeşil Valiz, einem Verband für verantwortlichen Tourismus, bestand der einzige Weg, den gesellschaftlichen Druck zu überwinden, darin, Frauen zu ermutigen, sich  zusammenzuschließen.

Yeşil Valiz wurde 2014 von 33 Fachleuten aus der Tourismusbranche gegründet. Der Verband fördert inklusive Analysen von Wertschöpfungsketten, um die Rolle der Frauen zu stärken. Die einheimischen Frauen sollten in allen Positionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette beschäftigt sein, nicht nur am untersten Ende. Das Ziel für die einheimischen Frauen muss sein, einen qualitativen Sprung in die typischerweise von Männern besetzten Positionen in den Wertschöpfungsketten

zu machen.

Ein hervorragendes Beispiel für dieses Potenzial sind die Frauen in Misi, einem pittoresken Dorf in der Nähe von Bursa. 45 Frauen gründeten dort einen Landfrauenverband. Unter Anleitung gelang es ihnen, die traditionelle Seidenproduktion wiederzubeleben, die ihr Dorf in der osmanischen Zeit berühmt gemacht hatte, und sie begannen, traditionelles Kunsthandwerk herzustellen. Außerdem eröffneten sie ein Restaurant mit traditioneller türkischer Küche, wo sie selbst zubereitete Speisen anbieten. Sie haben erfolgreich eine Wertschöpfungskette entwickelt, in die alle Frauen mit unterschiedlichem Hintergrund und Talenten einbezogen sind.

Analyse der Wertschöpfungskette

Ein weiteres Projekt ist Yukarıyapıcı, ein Pomaken-Dorf in der Marmara-Region, unweit von Erdek. Mit mehr als 50 registrierten historischen Häusern, zwei historischen Klöstern und dem Archäopark des Hadrianstempels in einem Umkreis von fünf Kilometern verfügt das Dorf über hervorragende Möglichkeiten für ländlichen und Kulturtourismus. Erdek war zwar eines der ersten Touristenziele in der Türkei, doch das Dorf Yukarıyapıcı war mit Tourismus bislang nicht in Berührung gekommen. Das Projekt begann mit einer Analyse der bestmöglichen Wertschöpfungskette, an der alle Dorfbewohner mit ihren unterschiedlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten beteiligt sein können. Der Verband Yeşil Valiz unterstützt Einheimische, diversifizierte touristische Produkte und die auf sie zugeschnittene Wertschöpfungskette zu entwickeln. Der Verband arbeitet mit Männern und Frauen zusammen, um in jedem Schritt der Destinationsplanung Geschlechtergerechtigkeit sicherzustellen.

Lokal denken und mitreden

Das Ministerium für Kultur und Tourismus der Türkei hat in seiner Tourismusstrategie bis 2023 als Ziel festgelegt, Räte zu bilden, um eine branchenweite

Koordination auf nationaler und regionaler Ebene sicherzustellen. Die kleinsten Einheiten sind städtische Tourismusräte, in denen alle Interessengruppen in einer Stadt ihre Forderungen zu Gehör und Vorschläge einbringen können.

Um die informierte und aktive Beteiligung der Landfrauen an Entscheidungsprozessen zu verbessern, initiierte der Verband Yeşil Valiz das Projekt ‘Think Local, Get Vocal’ (Lokal denken und mitreden). 174 Frauen aus neun Dörfern werden vorbereitet, eine Strategie auszuarbeiten, die der Kommunalbehörde präsentiert werden soll. Das ist eine hervorragende Gelegenheit für Frauen, ihre Stimme zu erheben: heute für ihre Tourismusorte, morgen für ihre Gleichberechtigung in allen ihren Lebensbereichen.

Arzu Kutucu Özenen ist Vorstandsvorsitzende von Yeşil Valiz („Grüner Koffer“), einem Verband für verantwortlichen Tourismus in der Türkei.

Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp

(6.220 Zeichen, März 2016, TW 82)