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Brasilien: Noch keine Option

Inlandstourismus in traditionellen Gemeinschaften Brasiliens


Community Based Tourism_CBT_Brasilien_Gemeindebasierter Tourismus

Die meisten Brasilianer*innen haben bislang wenig Interesse am gemeindebasierten Tourismus gezeigt. Es besteht zu wenig Bewusstsein, wofür er steht: soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, kulturelle Identität und Umweltschutz. Bewusstseinsbildung auf dem nationalen Markt ist ein langwieriger Prozess und es gibt diesbezüglich noch keine positiven Anzeichen. Zwar gilt der Inlandstourismus während der Corona-Pandemie allgemein als Option, doch aus Sicht vieler traditioneller Gemeinschaften in Brasilien erscheinen die Risiken momentan größer als die Chancen.


Der gemeindebasierte Tourismus (CBT) floriert in Brasilien, dank der starken institutionellen Unterstützung durch die frühere Regierung von Lula da Silva vor etwa zehn Jahren. Für traditionell lebende Gemeinschaften ist er in erster Linie ein politisches Instrument zur Bekräftigung ihrer Identität und ihres Existenzrechts auf ihrem Land. Kulturelle Wertschätzung und Naturschutz sind immer Prioritäten gewesen. In der Erklärung von Salvador, unterzeichnet zum Abschluss des II. Globalen Forums zu nachhaltigem Tourismus 2018, bestätigen Gemeinschaften ihre Absicht, „vorherrschende Formen des konventionellen und Massentourismus infrage zu stellen, die sich oft als nicht nachhaltig darstellen.“ Sie seien „spaltend, räuberisch und invasiv gegenüber Menschen, ihrer Umwelt und ihrer Kulturen.”


In Brasilien wird der gemeindebasierte Tourismus von sozialen und politischen Bewegungen und Netzwerken unterstützt und gefeiert. Er wächst in einer Art selbstgewählter kommerzieller Isolation im Tourismussektor. Gemeindebasierter Tourismus überlebt in Brasilien vor allem in Nischen des heimischen Marktes. Internationale Gäste spielen eine untergeordnete Rolle. „Die Mehrheit unserer Besucher*innen stammen aus den Schulen vor Ort und mehreren nationalen Universitäten”, sagt Maria Aparecida de Alcântara, Geschäftsführerin des Rede TUCUM, eines gut organisierten CBT-Netzwerks, das 2006 im Bundesstaat Ceará gegründet wurde. Landesweit waren die meisten Gäste der CBT-Initiativen Bildungs-, Wissenschafts- und Sozialtourist*innen oder Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen. Sie haben die Anliegen und sozialen Projekte der Initiativen gestärkt, nicht aber deren Wirtschaftlichkeit.


Verantwortlich, aber nicht tragfähig

Selbst wenn der Tourismus eine Nebentätigkeit bleiben soll, um die traditionellen Aktivitäten und Lebensstile der Gemeinschaften abzusichern und ihnen Vorrang zu geben, muss er dennoch tragfähig sein. Regelmäßige Besuche verantwortungsbewusster in- und ausländischer Gäste wären gut, um sie sowohl in ihren Anliegen als auch wirtschaftlich zu unterstützen. Doch dafür bräuchte es die Beteiligung weiterer Akteure entlang der Wertschöpfungskette.


Brasilien ist ein riesiges Land und viele traditionelle Gemeinschaften sind nicht einfach zu erreichen. So siedelten zum Beispiel die Quilombolas (Nachfahren früherer Sklaven), an versteckten, abgelegenen Orten. Um zu den Caiçaras (Nachfahren indigener Völker und Portugiesen) oder den Ribeirinhos (die an Flüssen und an der Küste leben) zu gelangen, muss man, je nach Lage, unter Umständen große Distanzen zu Fuß überwinden. Für viele indigene Gemeinschaften, für die Ribeirinhos und andere traditionell lebende Gruppen in der Amazonas-Region findet der Verkehr auf dem Wasser statt, denn die Flüsse sind ihre einzigen Verkehrswege.


Aufgrund der hohen Fahrtkosten und anderer Transportprobleme ist CBT für Reiseveranstalter in den meisten Fällen kein lukratives Geschäft. Aufgrund von fehlendem Marketing, Kommunikations- und Verhandlungsgeschick und geringer Professionalität, bleiben viele Projekte auf Subsistenzniveau und sind betriebswirtschaftlich nicht tragfähig.


Das Risiko von Ausbeutung und negative Erfahrungen in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass Netzwerke wie das Rede Nhandereko an der Küste zwischen Rio de Janeiro und São Paulo lieber auf ihre eigene Unabhängigkeit setzen. Dies hat zu sehr guten Erfolgen geführt und die Identität jeder einzelnen Gemeinschaft und auch die Beziehungen zwischen den traditionellen Gemeinschaften in der Region gestärkt.


Erreichbar, aber in Gefahr

Für Gemeinschaften, die besser erreichbar sind, war das Verhältnis zu den brasilianischen ‘Sonne-und-Strand‘-Tourist*innen nicht einfach nur durch neutrale Unsichtbarkeit geprägt, sondern bisher sehr negativ. Wie Nei, ein Gemeindemitglied aus Ubatuba, berichtet, leiden Gemeinschaften in der Küstenregion zwischen Rio de Janeiro und São Paulo derzeit unter einer wahren ‘Invasion‘ von Städter*innen, die in ihre Sommerhäuser gezogen sind. Robson aus der Caiçara-Gemeinschaft von Trindade in Paraty im Südosten des Bundesstaates Rio de Janeiro hatte bereits 2019 von Problemen berichtet: „Wir betonen hier, wie wichtig es ist, auf das Meer und den Wind zu hören. Alles spricht. Doch dann kommen Massen an Touristen mit ihren Stereo-Lautsprechern und man versteht nicht einmal mehr die Person, die neben einem sitzt. Diese Tourist*innen haben kein Interesse an Interaktionen mit uns. Wir würden gerne von den Fischen erzählen, von unseren Booten, unserer traditionellen Fangtechnik, doch sie haben einfach kein Interesse. Sie kommen lediglich hierher, um Spaß zu haben. Ganz zu schweigen von dem Müll, den sie hinterlassen und den wir von unseren Stränden aufsammeln müssen.”


Zusätzlicher Druck in Corona-Zeiten

Die Corona-Pandemie hat zu weiterem Druck auf die Gemeinschaften vor Ort geführt. Viele von ihnen funktionieren derzeit im Überlebensmodus. Für Gemeinschaften in zugänglichen Gebieten von natürlicher Schönheit, die bei Tourist*innen beliebt sind, eskaliert die Situation. Die Gemeinschaften sind von den Corona-Risiken nicht ausgenommen, aber ganz auf sich allein gestellt, sich gegen den Zustrom von Tourist*innen zu wehren. Die Gemeinschaften aus Paraty berichteten, dass sie an der Straße zu ihren Siedlungen zu ihrer Verteidigung Barrikaden errichtet hätten. Doch viele Tourist*innen ignorieren einfach die ‘Kein unerlaubtes Betreten’-Schilder.


Zum Glück haben in einigen Orten die Kommunalverwaltungen CBT-Projekte unterstützt, zum Beispiel die im Netzwerk Rede TUCUM zusammengeschlossenen Gemeinschaften, damit diese sich den neuen Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen besser anpassen können. Die brasilianische Bundesregierung hat jedoch keinerlei besondere Maßnahmen ergriffen, um traditionelle Gemeinschaften zu schützen und unerwünschte und gefährliche ‘Tourist*innen-Invasionen’ zu verhindern. Darüber hinaus hat die Regierung sich allzu oft blind gestellt und sogar illegale und unmenschliche Aggressionen gegen Gemeinschaften erlaubt. Dazu gehört zum Beispiel die Abholzung im Amazonas und viele andere illegale Aktivitäten, die während der Pandemie anscheinend erheblich zugenommen haben.


Es gibt Hoffnung

Derzeit sind viele Gemeinschaften für Besucher*innen noch immer geschlossen oder versuchen sehr langsam und vorsichtig, sich der neuen Situation anzupassen. Verantwortungsvolle lokale Reiseveranstalter könnten hervorragende Partner sein und in eine resilientere Welt nach Corona investieren. Sie könnten ihr Interesse dem gemeindebasierten Tourismus zuwenden und damit auf aktuelle Nachfragetrends reagieren, wie z. B. der Suche nach unberührter Natur fernab der überfüllten Städte. Neue Beziehungen brauchen jedoch Zeit, insbesondere weil das Vertrauen der Gemeinschaften in der Vergangenheit so oft missbraucht wurde. Es braucht Neuanpassungen und Lösungen, die gemeinsam entwickelt werden müssen.


Das neu entdeckte Interesse an der Natur, an naturnahen Aktivitäten und einem Eintauchen in unterschiedliche Lebenswelten nimmt auf nationalen Tourismusmärkten weltweit zu, wenngleich in unterschiedlichem Maße. Es besteht Hoffnung, dass dies zu lokaler Entwicklung und einer Stärkung von Gemeinschaften führt und nicht zu einer neuen Form der Ausbeutung von Menschen und Orten. In Brasilien stellt der Inlandstourismus momentan jedoch noch keine verlässliche Option für CBT-Projekte dar - jedenfalls jetzt noch nicht.


Elisa Spampinato ist CBT-Expertin und versteht sich als Geschichtenerzählerin und Botschafterin für nachhaltigen Tourismus. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin von Traveller Storyteller und lebt in London.

Weitere Informationen:

Sustainability Leaders Project (2020): Elisa Spampinato on Community-Based Tourism in Brazil and Coping with the Pandemic.

Elisa Spampinato (2020): Lessons from the Circle: Reflections on the Brazilian CBT. Traveller Storyteller.

Elisa Spampinato (2020): Transformational Exchanges. Traveller Storyteller.