Von Lea Thin, freie Autorin
Der Karneval von Barranquilla zieht jährlich über 1,5 Millionen Besucher:innen aus aller Welt an, um an den farbenfrohen Paraden und lebhaften Feierlichkeiten teilzunehmen. Der Hotspot des Karnevals ist die Vía 40, eine der Hauptstraßen im Norden der Stadt, auf der die berühmte "Batalla de Flores" (Blumenschlacht) stattfindet. Hier sind die größten und spektakulärsten Umzüge zu sehen, bei denen geschmückte Wagen, Tanz- und Musikgruppen die Zuschauer:innen begeistern. Doch trotz der beeindruckenden Feierlichkeiten ist der wahre Geist des Karnevals dabei, zugunsten kommerzieller Interessen für den Massentourismus zu verschwinden.
Irreführendes Tourismusmarketing
Im karibischen Karneval verschmelzen afrikanische, indigene und europäische Einflüsse. Er entstand während der Kolonialzeit – doch nicht als Festivitäten der Kolonialherren, sondern als Möglichkeit für versklavte Afrikaner:innen, ihre kulturelle Identität zu bewahren und sich über die kolonialen europäischen Festivitäten lustig zu machen. Während die Paraden auf internationale Tourist:innen, in deren Kulturen koloniale Rassismen selbst tief verankert sind, wie eine Reproduktion rassistischer Stereotypen erscheinen mögen, haben die Masken und Kostüme nicht die gleiche Dimension wie der Zwarte Piet oder Blackfacing im europäischen Karneval. Die Darstellungen im Karneval in Barranquilla funktionieren sogar genau umgekehrt: Als eine Form der Wiederaneignung des rassistischen Narrativs und eine Bejahung des Schwarzseins. Es sind jedoch nicht die Paraden und Darbietungen selbst, sondern die Vermarktung des Karnevals, die falsche Annahmen über Exotisierung und eine Glorifizierung der Kolonialzeit begünstigt. Tourist:innen werden zu einem Spektakel eingeladen, anstatt den wahren Geist des karibischen Karnevals kennenzulernen. Medien und touristische Anbieter konzentrieren sich oft auf die spektakulären Paraden und vernachlässigen dabei die tiefere kulturelle und historische Bedeutung des Karnevals. Dies kann bei Tourist:innen, die nur wenig über die Feierlichkeiten wissen, Stereotype verstärken. Dabei ist der Karneval in Barranquilla in Wirklichkeit ein Raum des freudigen Kommentars, des demokratischen Vergnügens, ein klassenloser utopischer Moment, ein Moment der multikulturellen Verschmelzung und ein sicherer Raum für Kritik an den Eliten.
Karneval ist Klassenkampf
Der Karneval in Barranquilla offenbart damit auch eine soziale Spaltung der Stadt. Die Wurzeln hierfür liegen in der kolonialen Klassengesellschaft. Durch die getrennten Feierlichkeiten der Oberschicht im reichen Norden und den volkstümlichen Festen der unteren Schichten im ländlichen Süden wird diese koloniale Klassengesellschaft durch den Karneval in gewisser Weise aufrechterhalten. Denn die aufgepeitschten Paraden im Norden Barranquillas, die Tourismusanbieter als authentische Erfahrung anpreisen, sind voller kolonialer Stereotype und entsprechen nicht dem wahren Charakter der Festlichkeiten. „Im Gegenteil,“ sagen die Aktivist:innen und Künstler:innen des Karnevalskollektivs ‚La Nave de lxs Locxs‘ – übersetzt ‚Das Schiff der Verrückten‘. „Der Karneval in der Karibik ist aus dem Widerstand gegen rassistische und koloniale Stereotypen entstanden. Er war dafür da, dass die Menschen hier mit dem wenigen, das sie hatten, genießen und alles vergessen konnten. Es war eine totale Hingabe des Geistes“. Barranquilla kam dabei als ‚Puerto de Libres‘, als Hafen der Freien, eine besondere Rolle zu. „In den benachbarten Kolonialstädten Cartagena und Santa Marta gelang es der Elite und der Kirche, den Karneval zu vertreiben. Deshalb kam dann der Karneval über den Fluss nach Barranquilla, wie viele der Einwanderer und befreiten Sklaven,“ erklärt das Kollektiv.
Massenspektakel vs. Tradition
Dem entgegen steht der Karneval, der heute von zahlreichen Tourismusanbieter:innen und Reiseführern beworben wird. Der wahre Karneval in Barranquilla bricht Stereotypen auf, dekonstruiert sie und schwächt sie. Der Massentourismus sei dabei nicht nur hinderlich, er ist sogar ein wesentlicher Teil des Problems: „Die Tourist:innen bezahlen dafür, von einem sicheren Ort aus ein inszeniertes Spektakel beobachten zu können. Sie wollen kurz in eine Kultur eintauchen, aber dann bitte auch schnell wieder verschwinden, bevor es unbequem wird. Für diesen sicheren Platz als Beobachter:innen bezahlen sie eine Menge Geld. Ihr Geld fließt oft zu jenen, die schon genug davon haben, ohne sich für die Belange der Gemeinschaft zu engagieren. Der Großteil des Geldes landet in den Händen der Eliten, die damit versuchen, den Karneval zu kapitalisieren und auch zu beschönigen,“ so die Kritik des Kollektivs ‚La Nave de Lxs Locxs‘. Die Aktivist:innen glauben sogar, die UNESCO hätte Barranquilla den Titel zum Weltkulturerbe längst entzogen, wenn sie die Ernennung überprüfen würde: „Es scheint, dass die wirtschaftliche und politische Elite mehr daran interessiert ist, wirtschaftlichen Nutzen aus dem Karneval zu ziehen als seine Traditionen zu erhalten. Die Stadt will den geldbringenden Tourist:innen ein Spektakel bieten und den eigentlichen Charakter des Karnevals, der Kritik an den Eliten übt, entfernen.“
Ein Schiff voller Verrückter
Der Süden von Barranquilla bietet hingegen ein noch wesentlich authentischeres Karnevalserlebnis. Ein wichtiger Ort ist die Calle 17 im Stadtteil Simon Bolivar, besonders bekannt für den „Rey Momo“-Umzug. Aufgrund von Sicherheits- und Infrastrukturproblemen ist der Tourismus dort jedoch stark einschränkt. Hier ist auch das Kollektiv ‚La Nave de Lxs Locxs‘ aktiv. Die Gruppe von Künstler:innen, Aktivist:innen und Performer:innen setzt sich für soziale Gerechtigkeit, politische Veränderung und kulturelle Vielfalt ein. Sie organisieren jährlich zum Karneval im Süden der Stadt kreative Aktionen, Performances, Workshops und Veranstaltungen, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Ihre Kunst und Performances dienen dabei als Mittel zur politischen Mobilisierung und Empowerment, wobei sie sich mit Themen wie Feminismus, LGBTQ+, Antirassismus und Umweltschutz auseinandersetzen.
Karneval ist Aktivismus
Das Kollektiv betont die rituelle und revolutionäre Bedeutung des Karnevals: “Für uns ermöglicht der Karneval die spirituelle Begegnung zwischen Schwarzen, indigenen Völkern, feministischen und LGBTIQ+-Kollektiven. Der Karneval spielt sich auf den Straßen der gesamten Stadt ab, so dass seine Erscheinungsformen vielfältig und komplex sind. Das, was in der Vía 40 stattfindet und jährlich tausende internationale Tourist:innen anlockt, ist nur eine Karnevals-Show, die für Zuschauer entworfen wurde. Im traditionellen Karneval hingegen sind wir alle Schauspieler.“ Trotz der Kritik am Karnevalstourismus sind aber grundsätzlich auch internationale Besucher:innen willkommen – unter gewissen Voraussetzungen: „Wir sind nicht daran interessiert, zu wachsen, berühmt zu werden oder Geld mit unseren Veranstaltungen zu verdienen. Wir können unsere Gesellschaftskritik über unsere Performances sichtbar machen, aber das geht nur in einem überschaubaren Rahmen, in dem die Menschen auch noch miteinander ins Gespräch kommen,“ erklärt das Kollektiv. „Unser Karneval ist kein Produkt, das konsumiert werden kann, sondern vielmehr ein Prozess, an dem alle vor Ort beteiligt sind. Daher sind unsere Veranstaltungen auch nur etwas für Leute, die aus ihrer Komfortzone herauskommen und sich wirklich mit den dargestellten Themen befassen wollen.“