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Im Wasser ist niemand gleich

Postkolonialer Surftourismus in Marokko


Zwei Surfer gehen zum Strand


Von Younes Johannes Brik Adam Klinge

Aufstehen mit der Sonne, Yoga auf dem Hosteldach. Dann gemeinsam zum Strand und surfen. Abends gibt es Bowls oder Burger auf der Hauptstraße zu den Klängen indigener Straßenmusik. Ein typischer Urlaubstag vieler Surftourist:innen in Taghazout. Vor gut zwanzig Jahren fand man in dem kleinen südmarokkanischen Fischerdorf neben Einheimischen nur eine Handvoll Hippies. Heute ist das Dorf eine Autostunde nördlich von Agadir der Surf-Hotspot Nordafrikas schlechthin.

Sonne tanken und Wellen finden

Doch weder bei den sportlichen Aktivitäten noch kulinarisch haben die Reisenden viel Bezug zu Land und Leuten. Travel Blogs berichten vom „Land der 1001 Wellen“ – ganz im orientalistischen Stil. Aber die lebendige einheimische Amazigh-Kultur im Schmelztiegel zwischen Afrika, Europa und dem arabischsprachigen Raum interessiert die meisten Surfer:innen nicht. Sie kommen nur zum Surfen. Der Rest ist eine ‘exotisch angestrichene Kulisse. Dies belegen Interviews, die ich im Rahmen meiner Masterarbeit an der Deutschen Sporthochschule Köln geführt habe.

Dass so viele Reisende aus Westeuropa nach Marokko kommen, hat sich vor allem wegen der optimalen Surfbedingungen im Winter, wegen des schönen Wetters und der niedrigen Reisekosten etabliert. Auf kulturelle Erwartungen angesprochen, geben viele Surfreisende zu, dass sie sich kaum mit dem Land auseinandergesetzt haben.

Eigentlich klingt dies zunächst nach einer Chance, dass die Gäste Marokko und seine Kultur ungefiltert kennenlernen könnten. Nach dem Motto „Sport verbindet und im Wasser sind alle gleich“, wie es eine der interviewten Surferinnen sagt, ließen sich vielleicht postkoloniale Denkweisen Reisender dekolonisieren.

Gleicher Sport, ungleiche Begegnungen

Doch leider führt Reisen per se nicht zu einem Abbau rassistischer und postkolonialer Stereotype und Vorurteile. Warum sollte es beim Surftourismus anders sein? Die Ergebnisse meiner Studie sind ernüchternd: Durch Surftourismus bestätigen oder verstärken sich bestehende postkoloniale und rassistische Bilder. Marokko und seine Menschen werden als unverrückbar „fremd“, „anders“ und „exotisch“ positioniert, bei gleichzeitigem westlichem Norm-Selbstverständnis.

Auch westliche Überlegenheitsvorstellungen wurden in den Interviews deutlich. Reisende sprechen vom „Nachholbedarf der Menschen“, um den „Sprung ins 21. Jahrhundert zu schaffen“. Die Kultur wird pauschal als „einfach und wild“, die Menschen als „arm und bedürftig“ beschrieben. Während Männer als aggressiv und übergriffig gelten, werden Frauen verallgemeinernd als passive Opfer ihrer Religion dargestellt. Muslimische Formen des Feminismus, die von westlichen Vorstellungen abweichen, haben in den westlich-hegemonialen Köpfen der Reisenden keine Berechtigung. Den Marokkaner:innen wird unterstellt, dass Europa ihr Sehnsuchtsort sei. Politische und kulturelle Entwicklungen sollen nach europäischem Vorbild ablaufen.

Für den Abbau solcher Stereotypen bräuchte es echte Begegnungen mit gleichem Status. Surfen schafft durchaus Kontaktmomente. Auch Einheimische surfen und der Sport hat in Marokko sogar antipatriarchale Ikonen wie Meryem El Gardoum hervorgebracht. Doch im Wasser herrschen international geltende Hierarchien, die solche Begegnungen verhindern. Marokkanische Surfer:innen  warten dort auf Wellen, wo sie anfangen zu brechen. Tourist:innen dürfen sich nicht in diesem Bereich aufhalten. Sie bekommen die Wellen, die die Einheimischen nicht möchten.

Generell berichten nur wenige Surftourist:innen von Freundschaften zu Einheimischen, die sich durchs Surfen ergeben hätten. Einigen interviewten Surfreisenden ist bewusst, dass man „einen Eindruck bekommt, der auf den westeuropäischen Tourismus zugeschnitten ist“. Einheimischen geht es im Kontakt mit Gästen um die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Der Surftourismus ist wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der Region zwischen Agadir und Essaouira.

Neokoloniale Fortschreibungen statt dekolonialer Unabhängigkeit

Die Trennung zwischen westlichen Surfreisenden und lokaler Kultur zeigt sich auch bei einem abendlichen Spaziergang durch die Hauptstraße: Einheimische sitzen eher in marokkanischen Restaurants, während Reisende sich durch teure, westlich geprägte „Hipsterküchen“ schlemmen. Ein bisschen „fremd“ darf es sein, aber nicht zu fremd. Die Marokkaner:innen, mit denen sie in Kontakt kommen, seien die, die sehr viel mit der westlichen Kultur zu tun hätten und sich daran angepasst hätten, erkennt eine interviewte Person: „Gerade hier bin ich mir nicht sicher, ob ich so tiefe Einblicke in die marokkanische Kultur bekomme“.

Das liegt auch daran, dass Personen, die im Tourismus arbeiten, alles tun, um sorglosen Europäer:innen die perfekte Balance zwischen „exotischem“ Nordafrika und westlichen Annehmlichkeiten zu bieten. Das Dorf begibt sich in eine postkoloniale Dynamik, indem die lokale Kultur und Infrastruktur entsprechend manipuliert wird. So gibt es dem westlichen Gaumen schmeichelndes Essen und Bars, die Alkohol ausschenken. Diese „Privilegien“ sind westlichen Reisenden, einigen im Tourismus arbeitenden Marokkaner:innen sowie der marokkanischen Elite vorbehalten. Verhaltensweisen, für die sich Einheimische strafbar machen können, wie etwa Freizügigkeit, werden bei Tourist:innen toleriert. Einblicke in die traditionelle Kultur bekommen Reisende nur oberflächlich, durch auf sie zugeschnittene Darbietungen indigener Musik in touristischen Orten.

Was sich in Taghazout beobachten lässt, geschieht auch an vielen anderen Orten der Welt. Sporttourismus kann wirtschaftlichen Aufschwung mit sich bringen und Arbeitsplätze schaffen. Er kann auch Begegnungen fördern, wenn er entsprechend gestaltet wird. Um Vorurteile abzubauen, sollten Surfreisende aber zuerst verstehen, dass auch sie rassistische und postkoloniale Bilder in sich tragen. Mit diesem Bewusstsein sollten sie sich aktiv mit Land und Leuten auseinandersetzen und sich vor Ort auch auf Begegnungen einlassen, die nicht allein auf Geschäftsbeziehungen beruhen. Dabei gilt es, Menschen und Situationen offen und nicht durch vorurteilsbehaftete Filter zu betrachten. So können Grundlagen für Begegnungen geschaffen werden, die postkolonialen Stereotypen entgegenwirken.

Younes Johannes Brik Adam Klinge ist Absolvent des Masters-Studiengangs Sporttourismus und Destinationsmanagement in Köln. Seine Masterarbeit mit dem Titel „Surftourismus als dekoloniales Mittel?“ ist eine qualitative Untersuchung zum Einfluss von Surftourismus in Marokko auf rassistisch-postkoloniale Stereotype und Vorurteile. Der Deutsch-Marokkaner hat für seine Arbeit einen Winter in Taghazout verbracht.