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Mehr als nur „zu viele“: Warum Overtourismus als Konzept nicht ausreicht


Von Lea Thin, freie Autorin

Steigende Mieten, Müllberge und immer knapper werdende Ressourcen. Der Diskurs um Overtourismus ist aktueller denn je – und polarisiert. Während im Fokus des Konzepts die Massen an Tourist*innen stehen, zeigt die Initiative Alba Sud, dass hinter den Problemen viel mehr steckt als bloße Zahlen.

Kritik am Modewort „Overtourismus“

Die Welt reist, und sie reist immer mehr. Unter dem Label „Overtourismus“ werden vor allem die negativen Folgen ausufernder Besucherströme diskutiert: Wohnraum wird knapp, lokale Geschäfte verschwinden, der Verkehr kollabiert und vielerorts entstehen Verdrängung und soziale Ungleichheit. Auch die ökologischen Belastungen sind gravierend – von Abfallbergen bis zu bedrohten Ökosystemen. Doch um diese Herausforderungen anzugehen, bedarf es mehr, als allein die Besucherzahlen an touristischen Hotspots zu beschränken, warnt Ernest Cañada, Koordinator von Alba Sud. „Wer von Overtourismus spricht, verliert schnell die Strukturen aus dem Blick. Es geht eben nicht nur um viele Menschen, sondern um Macht, Kapital und gesellschaftliche Organisation“, erklärt Cañada während seines Vortrags „Tourismus transformieren: ein emanzipatorischer Ansatz“ auf der vierten Sommerakademie des Think Tanks.

Touristifizierung als Paradigmenwechsel

Das Event bot unterschiedlichen Akteur*innen Raum, um die Transformation des Tourismus aus kritischen Perspektiven zu beleuchten. Bei Alba Sud ist dabei das Schlagwort „Overtourismus“ kein Thema – im Gegenteil. Die Organisation fordert eine Analyse der tieferen Logiken touristischer Entwicklung. Cañada und sein Netzwerk argumentieren: „Was wir eigentlich kritisieren, ist die Touristifizierung – also die Umgestaltung von Territorien und sozialen Beziehungen nach den Erfordernissen kapitalistischer Verwertung. Wir sollten dies auch so benennen und nicht länger mit Begriffen wie Massentourismus oder Overtourismus arbeiten. Wenn wir nur nach „viel, wenig, nah, fern“ unterscheiden, besteht die Gefahr, dass wir die soziale Frage dabei völlig ausblenden. Denn weniger Tourismus für sich genommen heißt noch lange nicht mehr Lebensqualität für die Mehrheit der Menschen, sondern begünstigt Eliten und verschärft soziale Spaltungen“. Hinter dem Begriff Touristifizierung steckt ein umfassender Wandel von Städten und Regionen, in denen internationale Investoren, Kettenhotels und Plattformgiganten das Geschehen zunehmend kontrollieren. Darunter leiden nicht nur urbane Quartiere, sondern auch ländliche Räume. „Wenn wir nicht aufpassen, steuern wir auf eine Gesellschaft zu, in der das Leben der Mehrheit von ein paar Großkonzernen und ihren Renditezielen abhängt“, so Cañada.

Im Globalen Süden zeigt sich dieser Wandel besonders deutlich: Dort wird Tourismus oft als schneller Entwicklungsmotor verkauft, doch die Profite fließen meist in die Hände internationaler Unternehmen. Digitale Vermittler wie Airbnb oder Booking.com dominieren die Märkte, ziehen Gebühren und Gewinne ab und verschärfen die Abhängigkeit lokaler Akteur*innen von globalen Kapitalströmen. Zugleich setzen große Reiseunternehmen auf standardisierte Angebote, die wenig Raum für lokale Wertschöpfung lassen und kulturelle Vielfalt zur austauschbaren Kulisse degradieren. Die kapitalistische Logik hinter diesem System führt dazu, dass lokale Ressourcen wie Land, Wasser, Arbeitskraft und sogar Traditionen ökonomisch verwertet werden, während Risiken und Belastungen vor allem die Bevölkerung tragen. Für viele Regionen im Globalen Süden bedeutet Tourismus daher nicht Befreiung, sondern einen neuen Zyklus von Ausbeutung und Ungleichheit.

Abschied von einfachen Antworten, hin zu mehr Regulierung

Der spanische Thinktank Alba Sud will den Einfluss großer Touristikkonzerne auf den Tourismus nicht einfach hinnehmen und rät zu einem klaren Kurswechsel im politischen Umgang mit dem Reisesektor. Weg von reiner Marktliberalisierung hin zu echten Spielregeln, lautet das Credo. Echte Nachhaltigkeit im Tourismus, so Alba Sud, lebt von regionalen und solidarischen Geschäftsmodellen, die Rücksicht auf das Klima, die Gemeinschaft und die Mitarbeitenden nehmen – und nicht von immer neuen Rekorden bei Gästezahlen und Umsätzen der Megakonzerne.  Für die Aktivist*innen ist daher klar: Wer den Wildwuchs vor allem im Städtetourismus bändigen will, kommt um starke Regeln nicht herum. Multinationale Hotelketten und Plattformanbieter sollen durch verbindliche staatliche Vorgaben gezähmt werden. Das betrifft sowohl arbeitsrechtliche Mindeststandards als auch verpflichtende Vorgaben beim Wohnraumschutz. Denn preiswerter Wohnraum dürfe nicht länger dem Wettbewerb mit renditestarken Airbnb-Angeboten geopfert werden.

Transparenz ist für die Organisation dabei das A und O. Wer besitzt eigentlich die schönen Appartements in der Altstadt? Wohin fließen die Millionengewinne aus den besten Urlaubsregionen, und wer redet bei politischen Entscheidungen mit? Diese Fragen sollen laut Alba Sud nicht länger im Dunkeln bleiben. Offenheit über Eigentums- und Machtverhältnisse sei unverzichtbar für sozialen Ausgleich. Auch bei der Verwendung öffentlicher Gelder mahnt Alba Sud eine faire Handhabe an: Luxus- und Prestigeprojekte für einige wenige? Lieber nicht, meint die Organisation. Öffentliche Mittel sollen gezielt in soziale Angebote für die breite Bevölkerung investiert werden. Der Erhalt und Ausbau gemeinschaftlich nutzbarer Räume, Infrastruktur für Freizeit und Erholung und eine lokale Kreislaufwirtschaft sollten Vorrang haben.

Gerechtigkeit statt Profit: Die tieferen Ursachen des Overtourismus

Die Folgen der Touristifizierung sind kein dystopisches Zukunftsszenario, sie sind längst sicht- und spürbar. „Die ökologische Schwelle ist bereits überschritten. Es braucht Modelle, die der Mehrheit der Menschen und dem Klima gerecht werden“, mahnt Cañada. Die Debatte ist daher eigentlich eine Debatte um Teilhabe, Gerechtigkeit und das Recht auf Stadt und Land. Overtourismus ist dabei nur ein Symptom. Gemeinwohlorientierte Alternativen zeigen, wohin die Reise gehen kann: kommunale und genossenschaftliche Unterkünfte, kooperative Reiseangebote und Planungsansätze, die ökologische Belastungsgrenzen respektieren. „Wir müssen den Mut haben, Tourismus als Gemeingut und demokratische Aufgabe zu denken“, fordert Cañada. „Wir wollen nicht nur kleine Nischen, wir wollen den Kuchen neu verteilen. Der Tourismus der Zukunft könnte so von einem System, das auf Kosten der Mehrheit funktioniert, zu einem echten Instrument für regionale Entwicklung, soziale Sicherheit und mehr Lebensqualität für alle werden.“