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Internationale Netzwerkarbeit - Allianzen für einen gerechteren Tourismus


von Lea Thin, freie Autorin

Ein Interview mit Christine Plüss über die Bedeutung internationaler Netzwerkarbeit

Christine Plüss ist seit den 1970er-Jahren in der Tourismusbranche aktiv – zunächst als Reiseleiterin, später als langjährige Geschäftsführerin des Arbeitskreises Tourismus & Entwicklung (akte). Bis heute engagiert sie sich für eine globale, solidarische Perspektive auf den Tourismus.

Frau Plüss, welche Chancen eröffnet die Netzwerkarbeit zwischen Organisationen aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden?
Es gibt überhaupt keine ernsthafte tourismuskritische Arbeit ohne diesen Austausch. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen sich zusammentun – diejenigen aus den Ländern, in denen die Reisen geplant und verkauft werden, mit jenen aus den Regionen, die die Gäste aufnehmen. Nur gemeinsam lässt sich erkennen, wo der Schuh drückt: welche Probleme entstehen, aber auch, welche Chancen bestehen. Weder Politik noch Tourismuswirtschaft können diese Rolle übernehmen, denn sie interessieren sich meist gar nicht dafür, welche Folgen der Tourismus für die breite Bevölkerung mit sich bringt.

Wie gelingt es solchen Netzwerken, politischen Druck aufzubauen und Veränderungen anzustoßen?
Zivilgesellschaftliche Organisationen sind ein notwendiges Gegengewicht zur mächtigen Tourismusindustrie. Sie haben immer wieder Anliegen in die politische und wirtschaftliche Diskussion getragen – oft sogar mit Erfolg. Gute Momente waren jene, in denen Entscheidungsträger*innen tatsächlich auf unsere Impulse reagiert haben. Denn letztlich können nur die Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik die Weichen für eine verträglichere Tourismusentwicklung neu stellen. Aber heute wird der Spielraum vieler Organisationen enger, oft werden ihre Mittel gekürzt oder sogar ganz gestrichen. Immer weniger zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten anwaltschaftlich zu tourismuskritischen Themen. Das ist fatal, denn nur mit ihrer Stimme können die Interessen benachteiligter Menschen in Tourismusgebieten an entscheidender Stelle Gehör finden.

Gab es für Sie persönlich einen Moment, in dem Sie dachten: Ja, diese Zusammenarbeit lohnt sich?
Ja, sogar viele Momente. Ohne die Nord-Süd-Netzwerke gäbe es zum Beispiel keine Kampagnen gegen die Ausbeutung von Kindern im Tourismus. Daraus sind Strukturen entstanden, die bis heute wirken. Auch die Proteste gegen Tourismusgroßprojekte in Goa oder Phuket haben ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Tourismus nicht automatisch allen zugutekommt, sondern häufig Menschen überfährt. Solche Erfahrungen sind wie Vorläufer der heutigen Proteste gegen Overtourismus. Diese Erfolge bleiben – und sind der Verdienst von intensiver Netzwerkzusammenarbeit.

Sie betonen, dass die Probleme des Tourismus längst keine rein entwicklungspolitische Frage mehr sind. Können Sie das erläutern?
Früher stand der Tourismus stark im Fokus der Entwicklungspolitik: Menschen aus dem Globalen Norden reisten in den Globalen Süden, und dort wurden die negativen Folgen sichtbar. Heute erleben wir dieselben Mechanismen weltweit –auch in Städten wie Barcelona oder Venedig, wo die Rechte von Bewohnerinnen und Bewohnern für touristische Devisen mit Füssen getreten werden. Entwicklungspolitische Gelder für tourismuskritische Arbeit werden zudem immer knapper. Deshalb braucht es neue Finanzierungswege – etwa aus Töpfen der Klimapolitik oder Wirtschaftsförderung von Tourismusprojekten, aber auch aus der Tourismuswirtschaft, die für den Erhalt der Attraktivität ihrer Angebote einstehen muss. Entscheidend ist, dass im Zentrum dieser Arbeit weiter die Rechte der Benachteiligten stehen, egal ob im Süden oder in europäischen Metropolen oder den Bergen. Und dafür braucht es weiterhin Sensibilisierung und politische Arbeit auch an den Orten, von denen die Reisenden kommen und wo viele Entscheidungsträger*innen sitzen. Alles andere wäre ein gefährlicher Rückschritt.

Welche Rolle spielen kirchliche Akteure in dieser Arbeit?
Die Kirchen haben in der Tourismusdebatte historisch eine zentrale Rolle eingenommen, weil sie weltweit präsent sind und sich für das Verständnis zwischen Religionen und Kulturen und für die Rechte benachteiligter Menschen einsetzten. Sie waren eine Art zivilgesellschaftliche Klammer zwischen Nord und Süd. Wenn heute aber Kirchen und Entwicklungszusammenarbeit angesichts knapperer Gelder Tourismus einfach von der Agenda streichen, ist das ein alarmierendes Signal. Denn der Tourismus wächst weiter – und damit auch seine Schattenseiten.

In Nord-Süd-Netzwerken sind die Ressourcen oft ungleich verteilt. Wie kann eine faire Zusammenarbeit gelingen?

Dieses Gefälle existiert, aber in den 1980er- und 1990er-Jahren verfügten manche Partner im Süden sogar über mehr Mittel als wir im Norden. Das war auch ein Resultat der Lobbyarbeit der touristischen Stellen hier. Insgesamt jedoch hatten Organisationen im Norden meist größere finanzielle Spielräume. Besonders TourismWatch war immer ein Pfeiler in der Brandung, während die meisten anderen Organisationen unserer Netzwerke verzweifelt nach neuen Ressourcen suchten und zum Teil auch zum Tour Operating übergegangen sind. Doch gerade weil die Kräfteverhältnisse ungleich sind, ist Transparenz wichtig. Es kam immer wieder zu Spannungen, wenn sich Gruppen im Süden übergangen fühlten. Konflikte lassen sich nicht vermeiden, aber entscheidend ist, sich des Machtgefälles bewusst zu sein und es offen anzusprechen. Nur so kann anwaltschaftliche Netzwerkarbeit auf Augenhöhe gelingen.

Die Digitalisierung hat die Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit stark verändert. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Die Unterschiede zu früher sind natürlich enorm. Wir haben uns noch Briefe geschickt oder Faxe – wenn es bei unseren Partner*innen vor Ort überhaupt ein Faxgerät gab. Und wenn jemand eine Reise unternommen hat, hat man Briefe und Geld mitgegeben. Heute können wir via Zoom oder Webinare Menschen aus aller Welt zusammenbringen. Gerade während der Pandemie habe ich erlebt, wie bereichernd dieser Austausch sein kann. Natürlich ersetzt das keine physischen Treffen, aber es eröffnet Beteiligung für viele, die sonst nie hätten dabei sein können.

Wenn Sie ins Jahr 2030 blicken - welche Veränderungen im Tourismus wünschen Sie sich?
2030 ist ja schon bald! Natürlich wünsche ich mir, dass weniger gedankenlos „herumgejettet“ wird. Ganz realistisch aber, dass die zivilgesellschaftliche Netzwerkarbeit überhaupt weitergeführt wird – denn sie ist die Grundvoraussetzung, um den Tourismus gerechter zu gestalten. Gleichzeitig sehe ich aber auch die aktuellen Entwicklungen. Wichtige zivilgesellschaftliche Stimmen aus Nord und Süd sind mangels Ressourcen bereits verstummt. Derweil stehen heute andere große Probleme im Vordergrund: die Militarisierung, der Krieg in Europa, der Krieg in Gaza, der Krieg in Sudan, und die immer ausgrenzendere „Migrationspolitik“ bei uns. Das sind gewichtige Themen, mit denen wir uns seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr so auseinandersetzen mussten. Gereist wird aber weiter mit dem Anspruch auf grenzenlose Freiheit von all denen, die es sich leisten können – ungeachtet der Folgen für den Planeten, fürs Klima, für die Ressourcen oder für die Menschen vor Ort. Umso mehr wünsche ich mir starke zivilgesellschaftliche Organisationen, die über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, für Weltoffenheit einstehen und anwaltschaftlich dafür kämpfen, dass der Tourismus nicht länger auf Kosten der Schwächsten wächst, sondern ihnen tatsächlich zugutekommt.

Hinweis: Die Dokumente der über 40-jährigen Geschichte des Arbeitskreises Tourismus & Entwicklung mit seiner vielseitigen Netzwerkarbeit sind von Christine Plüss zu ihrer Pensionierung Ende 2019 dem Schweizerischen Sozialarchiv Zürich übergeben worden. Die Bestände sind im Schweizerischen Sozialarchiv aufgelistet und als Papierablagen vor Ort einsehbar. Der Arbeitskreis Tourismus & Entwicklung wurde 2020 in fairunterwegs umbenannt, weitere Angaben unter https://fairunterwegs.org/ueber-uns/geschichte/.