von Christina Kamp, freie Autorin
„Tourismus und nachhaltige Transformation“ – das Motto des diesjährigen Welttourismustages am 27. September könnte passender kaum sein, um das 50jährige Bestehen von Tourism Watch mit einer kleinen Rückschau zu begehen. Seit fünf Jahrzehnten engagiert sich Tourism Watch als Fach- bzw. Arbeitsstelle der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit zu Tourismus und nachhaltiger Entwicklung. Dabei gilt es immer wieder, auf Risiken und Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen, aber auch den dringend nötigen Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit im Tourismus und durch Tourismus voranzubringen.
In den frühen Jahren war von Nachhaltigkeit allerdings noch nicht die Rede. Doch der Tourismus wurde bereits in den größeren Kontext ökumenischer Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit, Menschenrechte und die Bewahrung der Schöpfung gestellt. In den 1970er und 80er Jahren ging es vor allem um den „Tourismus der Reichen in die Länder der Armen“. Auf einer Konferenz der Caribbean Conference of Churches (CCC) 1972 hatten karibische Partner*innen von den Kirchen der USA gefordert, was seitdem exemplarisch als Grundlage der entwicklungsbezogenen tourismuskritischen Bildungsarbeit im Globalen Norden gilt: „Ihr seid es, die mitverantwortlich sind für das, was sich auf unseren Inseln abspielt; ihr habt Kontakt zu den Leuten, die hierherkommen; wir wollen, dass ihr versucht, die Reisenden für die Realität in unseren Staaten zu sensibilisieren, damit ihr Verhalten angemessener und die sich entwickelnden Beziehungen ehrlicher werden.“
Auch aus Deutschland nahm der Fernreiseverkehr zu und die Verwerfungen im damals so genannten „Dritte-Welt-Tourismus“ wurden immer sichtbarer. 1975 reagierte der Kirchliche Entwicklungsdienst (KED) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit der Gründung des Zentrums für entwicklungsbezogene Bildung (ZEB) – Fachstelle Ferntourismus mit Sitz in Stuttgart. Eine der Aufgaben der Fachstelle war die Begleitung ökumenischer Lernreisen zum Austausch im kirchlichen Kontext. Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hatte die Notwendigkeit erkannt, Reisende in Entwicklungsländer für entwicklungspolitische Anliegen zu sensibilisieren und unterstützte die tourismuskritische Arbeit.
Anfang/Mitte der 90er Jahre wurde das ZEB als Fachstelle im Haus von Dienste in Übersee (DÜ) in Leinfelden-Echterdingen angesiedelt und in Tourism Watch umbenannt, um es in seinen internationalen Zusammenhängen leichter handhabbar und wiedererkennbar zu machen. 2001 zog das Büro als Arbeitsstelle des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) nach Bonn und schließlich 2012 nach Berlin in das neue (fusionierte) evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung – Brot für die Welt.
Fokus auf Auswirkungen des Tourismus
Konsequent hat Tourism Watch in seiner Bildungs- und Advocacy-Arbeit auf Verwerfungen wie die Verletzung von Menschenrechten und die Ausbeutung von Kindern hingewiesen und der Tourismuswirtschaft immer wieder die „rote Karte“ gezeigt. Verdrängungsprozesse, die Zerstörung von Natur und die klimaschädlichen Auswirkungen des Reiseverkehrs haben mit der Globalisierung weiter zugenommen. Strukturelle Probleme, die der Tourismus verursacht oder verschärft, zeigen sich inzwischen überall auf der Welt, wo touristische Erschließung voranschreitet – bis hin zu „Overtourism“ in besonders bereisten Regionen. Wo Tragfähigkeitsgrenzen überschritten sind, gehen Einheimische nicht selten dagegen auf die Straße. Wo Tourismus stattfindet, beeinflusst er Machtstrukturen, meist zulasten ohnehin benachteiligter Bevölkerungsgruppen.
Tourismus sei wie Müll zu behandeln, hieß es in einer frühen Phase der tourismuskritischen Reflektion: Zuerst komme das Vermeiden, dann müsse man schauen, wie mit dem Rest umwelt- und sozialverträglich umzugehen sei. Das Vermeiden jedoch erscheint heute illusorisch. Der Tourismus wächst weiter und die „Reichen“ von heute stammen nicht mehr nur aus den Ländern des Nordens. Auch in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern trägt die wachsende wohlhabende(re) Ober- und Mittelschicht zu den globalen Touristenströmen bei. Damit haben sich auch die Herausforderungen an die Bildungsarbeit für umwelt- und sozialverträgliches Reisen globalisiert.
Zivilgesellschaftliche Kooperationen
Tourism Watch hat in seiner 50jährigen Geschichte immer wieder wesentlich dazu beigetragen, zivilgesellschaftliche Akteur*innen aus Nord und Süd zusammenzubringen und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Zu den gemeinsamen Herausforderungen gehörten der Kampf gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern im Tourismus, Fragen zu Freihandel und fairem Handel, ein globaler Ethik-Kodex für den Tourismus, Richtlinien zu Tourismus und biologischer Vielfalt oder Tourismus im Rio-Folgeprozess unter der UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD). In all diesen Bereichen ermöglichten Kooperationen mit der damals noch existierenden Ecumenical Coalition on (Third World) Tourism (ECTWT/ECOT) und weiteren Partner*innen, tourismuskritische Analysen und Positionen einzubringen. Die internationale Kampagne “End Child Prostitution, Child Pornography and the Trafficking of Children for Sexual Purposes (ECPAT)”, die 1990 lanciert wurde, hat sich inzwischen zu einem eigenen Netzwerk entwickelt, das 142 ECPAT-Mitglieder in 115 Ländern umfasst. Mit europäischen Partnerorganisationen kooperierte Tourism Watch über Jahrzehnte auch im tourismuskritischen Netzwerk TEN.
Auf dem Weltsozialforum (WSF) und anderen zivilgesellschaftlichen Plattformen wie dem Asia Europe People’s Forum (AEPF) und dem International Tribunal on Evictions fanden dank solcher Kooperationen tourismuskritische Anliegen international Eingang in breitere entwicklungs- und gesellschaftspolitische Debatten.
Für mehr Verantwortung in der Tourismuswirtschaft
Auf Tourismusmessen wie früher dem Reisepavillon (1991-2010) und seit Mitte der 1980er Jahre auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) in Berlin gelang es zunehmend, Akteur*innen aus der Tourismuswirtschaft für entwicklungspolitische und Nachhaltigkeitsanliegen zu gewinnen. Tourism Watch initiierte und unterstützte Initiativen, Kriterien für Nachhaltigkeit im Tourismus zu entwickeln, bekannt zu machen und mit der Tourismusindustrie umzusetzen.
So entwickelten Mitte der 1990er Jahre der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung und Tourism Watch den TO DO Award sozialverantwortlicher Tourismus. Der Wettbewerb wird seitdem jedes Jahr vom Studienkreis für Tourismus und Entwicklung ausgeschrieben. Zentrales Wettbewerbskriterium ist die Partizipation der lokalen Bevölkerung bei der Planung und Umsetzung von Tourismusprojekten.
Gemeinsam mit kate Umwelt & Entwicklung brachte Tourism Watch ab Anfang der 2000er Jahre die Umsetzung von Corporate Social Responsibility (CSR) in der Tourismuswirtschaft voran und war 2009 Gründungsmitglied der gemeinnützigen Gesellschaft (GbR) für Zertifizierung im Tourismus TourCert. 2015 ging TourCert in eine gGmbH über, die Tourismusunternehmen und Destinationen in Bezug auf ihre ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit qualifiziert und zertifiziert.
Einen besonderen Schwerpunkt auf die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Unternehmen legte Tourism Watch in der Mitbegründung des Roundtables Menschenrechte im Tourismus 2012. Gegründet als Multistakeholder-Plattform ist der „Roundtable Human Rights in Tourism“ inzwischen ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Berlin.
Tourismus und nachhaltige Transformation
Mit der Agenda 2030 und den 17 UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) erhielt die entwicklungspolitische Arbeit 2015 einen neuen internationalen Rahmen. Die SDGs fordern eine größere Verantwortung im Globalen Norden ein, insbesondere in Hinblick auf Herausforderungen wie den Klimawandel, die vor allem von den wohlhabenderen Ländern verursacht wurden – und zu denen der Tourismus wesentlich beiträgt. Um zu analysieren, wie der Tourismus die Erreichung der SDGs befördern kann und inwiefern er sich womöglich kontraproduktiv auswirkt, engagiert Tourism Watch sich im „Transforming Tourism“-Netzwerk. Da immer mehr tourismuskritische Organisationen das Handtuch werfen mussten – vor allem aufgrund von Finanzierungsproblemen, keinesfalls weil sie nicht länger gebraucht würden – zielt diese Initiative darauf ab, neue Partner*innen ins Boot zu holen, deren Anliegen starke Berührungspunkte zur tourismuskritischen Arbeit haben.
„Den Kampf nicht aufgeben!“
So lautete Ende der 1990er Jahre der Titel eines Beitrags zu den damals neuen Tätigkeitsfeldern und dem gewandelten Selbstverständnis der Tourismuskritik* – und heute gilt dies mehr denn je. Zwar gibt es inzwischen ein breiteres Bewusstsein für viele der von Tourism Watch vorgebrachten Argumente, sowohl bei vielen Reisenden wie auch in der Branche. Doch an der Umsetzung hapert es häufig immer noch. Hinzu kommt, dass die Nachhaltigkeit in den aktuellen Zeiten multipler Krisen nur allzu oft anderen, scheinbar „dringenderen“ Prioritäten zum Opfer fällt.
Nach 50 Jahren sind die Herausforderungen nicht nur geblieben, sondern sie wachsen. Es wird in Zukunft eine noch besser koordinierte, verstärkte solidarische Advocacy-Arbeit brauchen, damit der Tourismus den Wandel hin zu Nachhaltigkeit unterstützt und ihr nicht zuwiderläuft. Denn noch immer ist es nicht selbstverständlich, dass die Anliegen der Menschen, die vom Tourismus betroffen sind, gehört und berücksichtigt werden und dass in der Nachhaltigkeitsdiskussion Menschenrechte und Gerechtigkeitsprinzipien eine zentrale Rolle spielen.
Weitere Informationen:
Aderhold, Peter/von Laßberg, Dietlind/Vielhaber, Armin/Stäbler, Martin (2000): Tourismus in Entwicklungsländer. Hg. Studienkreis für Tourismus und Entwicklung. Ammerland.
Orlovius-Wessely, Anita (1999): Future made by tourism? Die Tourismuskritik muss institutionalisiert werden. In: Ökozid-Journal Nr. 17, 1/99.
*Stäbler, Martin/Kamp, Christina (1997): Den Kampf nicht aufgeben! Neue Tätigkeitsfelder und gewandeltes Selbstverständnis der Tourismuskritik. In: Kreib, Yörn/Ulbrich, Angela: Ökozid 13. Gratwanderung Ökotourismus. Focus-Verlag, Gießen.