Blog

Türkei-Tourismus: Über die Besonderheiten eines keineswegs "normalen" Urlaubslandes


Auf Einladung des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung trafen sich in München Entscheidungsträger der Tourismuswirtschaft und Medienvertreter zu einem ausführlichen Hintergrundgespräch über den schwer gebeutelten Türkei-Tourismus. Die deutschen und österreichischen Großveranstalter waren durch die Vorstände von TUI (Hannover) und Gulet Touropa Touristik (Wien) vertreten sowie durch die Geschäftsleitung von LTT (Düsseldorf) und Öger Tours (Hamburg).

Zu den Teilnehmern gehörten auch die Geschäftsleitung der türkischen Incoming-Agentur Vasco, Antalya, sowie die renommierte Stiftung Wissenschaft und Politik. Im Mittelpunkt stand die offene Erörterung der eigentlichen Ursachen von Krisen und die Suche nach Möglichkeiten für einen dauerhaften, verantwortungsvollen Umgang mit den Besonderheiten des Türkei-Tourismus.

Im Gesprächsverlauf wurde u.a. deutlich: Ca. 9 Millionen Türkei-Urlauber aus aller Welt erbrachten 1998 Deviseneinnahmen von rund 7 Milliarden US-Dollar – das sind gut ein Viertel aller Deviseneinnahmen aus dem Exportgeschäft. In der Türkei sind 2 bis 2,5 Millionen Menschen direkt oder indirekt im Tourismus beschäftigt. Zahlreiche weitere Wirtschaftsbranchen partizipieren an der Tourismusentwicklung. Freilich war die Entwicklung des Tourismus in der Türkei stets von der Denkungsart des "Mehr" geprägt. Quantitatives Wachstum war Ziel der obersten staatlichen Instanzen – und sicher auch der privaten Tourismuswirtschaft. Das hat zu Überkapazitäten bei den Hotelbetten und beim Platzangebot türkischer Charterfluggesellschaften geführt – und damit zu Preisverfall und Billigtourismus.

Am Umgang mit Krisen scheint sich wenig geändert zu haben: Im Mittelpunkt steht nicht das kompetente Handeln, sondern das Negieren der Hauptursachen, stehen Scheindialoge seitens der politisch Verantwortlichen und das Fehlen eines koordinierten Krisenmanagements.

Daß der Tourismus in der Türkei vor allem das Opfer der allgemeinen Politik des Landes ist, scheint unstrittig zu sein. Daß es in der Türkei ungelöste interne Probleme gibt (in welchem Land wäre das nicht der Fall?), ist nicht zu leugnen. Dabei muß die Frage erlaubt sein, aus welcher Perspektive die Realität des Landes betrachtet wird. Aus der türkischen Perspektive wird eher darauf verwiesen, was in den letzten 75 Jahren geleistet wurde – die Perspektive im europäischen Raum hebt eher hervor, was noch nicht geleistet wurde.

Wissensdefizite über die Türkei

Fakt ist, daß es hier bei uns massive Wissensdefizite über die Türkei gibt. Die Realität des Landes ist weitaus komplexer als sie sich in der tagesaktuellen Medienberichterstattung widerspiegelt – häufig reduziert auf die Kurden-Frage und die in der Tat immer noch stattfindenden Menschenrechtsverletzungen.

Die heutige Türkei ist ein sehr junges und dynamisches Land. Die Hälfte der 64 Millionen Einwohner sind jünger als 35 Jahre, was enorme gesellschaftliche Konsequenzen mit sich bringt. Die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Gewährleistung gesellschaftlicher Aufstiegschancen für den Einzelnen sind aus türkischer Sicht das vorrangige Problem. Daneben gibt es enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Disparitäten in der regionalen Entwicklung des Landes, im Bildungswesen, im Sozialsystem, in der Wohlstandsverteilung und zwischen politischer und gesellschaftlicher Realität. Die politische Klasse scheint keine sinnvollen Rezepte für die Bewältigung des sozialen Wandels zu haben. "Alte Rezepte" treffen auf eine "neue Wirklichkeit". Die Folge ist eine zunehmende gesellschaftliche Aufsplitterung, die verbunden ist mit einem Verlust von Egalität und der Herausbildung gegeneinander abgegrenzter Sozialwelten (z.B. "islamische Wirtschaft" versus "westlich orientierte Istanbuler Industrie"). Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik und zunehmende Offenheit der türkischen Gesellschaft (die sich z.B. in den modernen Medien widerspiegelt) gerät vermehrt in einen Widerspruch zur etablierten politischen Ideologie des Kemalismus. Sie bedroht aber auch die gesellschaftliche Vormachtposition jener Gruppen, die bisher von ihr profitiert haben: Militär, Staatselite und Politiker. Die Folge ist ein Abwehrkampf an zwei Fronten: gegenüber "alternativen Eliten" (Islamisten) und modernen Gruppen (liberale Demokraten). Der Kemalismus, der einmal etwas sehr Dynamisches hatte, läuft Gefahr, zu einem statischen Element zu werden. Die Bewahrung der Errungenschaften und Erfolge der kemalistischen Entwicklungspolitik erscheint gefährdet.

Türkei-Kenner bleiben treu

Fakt ist ferner, daß die Türkei für die Deutschen keine Tourismusdestination wie jede andere ist. Das politische Geschehen in der Türkei ist in Deutschland – wie in keinem anderen europäischen Land – ein Dauerthema. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern sind dauerhafter Natur – ihre Besonderheit wird nicht zuletzt durch die in unserem Lande lebenden zwei Millionen türkischen Mitbürger hergestellt, die Verbindungen und Verpflichtungen besonderer Art schaffen. Trotzdem wird das bestehende gegenseitige Informationsniveau zwischen beiden Ländern der Bedeutung der gegenseitigen Beziehungen nicht gerecht. Klischees dominieren auf beiden Seiten.

Andererseits ist Deutschland das wichtigste touristische Entsendeland für die Türkei. 1998 unternahmen 2,2 Millionen Deutsche eine Urlaubsreise in die Türkei. 8,7 Mil-lionen oder 13,6 Prozent der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren haben in der Ver-gangenheit mindestens einmal Urlaub in der Türkei gemacht. Deutsche Urlauber schätzen an der Türkei vor allem die Gastfreundlichkeit und das sehr gute Preis-Leistungs-Verhältnis. Im Januar 1999 konnten sich 8,6 Millionen Bundesbürger vorstellen, innerhalb der nächsten drei Jahre eine Türkei-Reise zu unternehmen (Türkei-Potential) – davon 60 Prozent potentielle Erstbesucher. Gerade sie aber – die Türkei-Unerfahrenen – lassen sich dann abschrecken, wenn die persönliche Sicherheit als Urlauber bedroht scheint. Das haben bereits frühere Untersuchungen des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung nachgewiesen. So reduzierte sich nach den Bombenanschlägen im Jahr 1993 das deutsche Türkei-Potential für den Zeitraum 1994 bis 1996 von 6,0 auf 4,7 Millionen. Gleichzeitig ging der Anteil der Türkei-Unerfahrenen im Potential von 71 auf 58 Prozent zurück (absolut von 4,2 auf 2,7 Millionen). Dagegen erhöhte sich der Anteil der Türkei-Erfahrenen von 29 auf 41 Prozent (absolut von 1,74 Millionen auf 1,97 Millionen).

Menschenrechte

Und auch dies hat der Studienkreis bei Auftragsforschungen für die türkische (!) Tourismuswirtschaft ermittelt: Es sind nicht die Menschen in der Türkei oder die Tatsache, daß die Türkei ein islamisches Land ist, oder Defizite des touristischen Angebots, die das Image der Türkei als Urlaubsreiseland stark beeinträchtigen. Es sind die Menschenrechtsverletzungen, die bewaffneten Konflikte im Osten des Landes sowie die Bombenanschläge und die damit verbundenen oder subjektiv empfundenen Einschränkungen der persönlichen Sicherheit. Sie stellen die wichtigsten Gründe dar, die in unserer Bevölkerung gegen Urlaubsreisen in die Türkei sprechen – wenn auch mit unterschiedlicher Abstufung, je nach Grad und Aktualität der persönlichen Türkei-Reiseerfahrung.

Erfreulicherweise hatte sich das Image der Türkei als Urlaubsreiseland zwischen Januar 1995 und Januar 1999 (also bis zu den Bombendrohungen nach der Öcalan-Festnahme am 15. Februar dieses Jahres) in Bezug auf die persönliche Sicherheit der Urlauber deutlich verbessert. Völlig unverändert dagegen waren die großen Vorbehalte bezüglich der Menschenrechtsverletzungen. In anderen Untersuchungen des Studienkreises zum Thema "Menschenrechtsverletzungen in Reisezielländern und ihre Auswirkungen auf das Reiseentscheidungsverhalten der deutschen Urlauber" hatten z.B. im Januar 1998 53 Prozent der Bundesbürger die Türkei als ein Land bezeichnet, in dem Menschenrechte verletzt werden. Bereits frühere Expertenbefragungen des Studienkreises hatten gezeigt, daß Kenner unter den Touristikern davon überzeugt sind, daß die Türkei erst bei Fortfall der internen gewaltsamen Konflikte und der Menschenrechtsverletzungen ihr bedeutsames und bisher keineswegs ausgeschöpftes touristisches Potential richtig aktivieren könne – vorausgesetzt, es würden dabei auch qualitative Aspekte stärker berücksichtigt, wie Umwelt- und Sozialverträglichkeit touristischer Entwicklung, das – neben der beeindruckenden Gastfreundschaft der Türken - stärkere Herausstellen auch von anderen unverwechselbaren Angebotsmerkmalen und die Verabschiedung vom Billigtourismus.

Krise als Chance nutzen

Das Münchner Hintergrundgespräch des Studienkreises ließ die große Spannweite der Thematik "Türkei-Tourismus" erkennen. Es wurde deutlich, daß die Türkei kein touristisches, sondern ein politisches Problem hat, dessen Auswirkungen den Tourismus immer wieder extrem beeinträchtigen. Eines der wichtigsten Ergebnisse ist wohl die Erkenntnis, daß sich die Probleme und Defizite in der Türkei und hier bei uns nicht von heute auf morgen lösen lassen. Gerade in Krisensituationen schallt der Ruf nach schnellen Lösungen besonders laut. Ist die Krise vorbei – ohne daß die eigentlichen Ursachen beseitigt sind – geht man wieder zur Tagesordnung über. Bis zur nächsten Krise. Die diesjährige Krise sollte als Chance begriffen werden, grundlegende Defizite zu überdenken und deren Ausräumung zielstrebig anzugehen. Langfristige Visionen und Konzepte seien gefragt. Längst vorhandene Erkenntnisse müßten umgesetzt werden.

Auf jeden Fall müsse das Thema Tourismus in der Türkei höher bewertet werden. Zwischen der Bedeutung dieses Wirtschaftssektors und seinem Einfluß auf die Mitgestaltung der seinen Bereich betreffenden Politik bestehe ein krasses Mißverhältnis. Auch die hiesige Reiseindustrie könne gemeinsame Vorstellungen entwickeln und diese auf der politischen Ebene in Ankara vortragen. Vorgeschlagen wurde die Einrichtung dauerhafter kompetenter Gremien auf höchster Ebene – sowohl in der Türkei als auch hier –, die sich der Herausforderung aktiv und mutig annehmen und in einen regelmäßigen Dialog eintreten.

Bei allen Maßnahmen sei die Glaubwürdigkeit das wichtigste, meinten die Medienvertreter. Erst dann könne es gelingen, die Medien in den notwendigen Abbau von Vorurteilen einzubeziehen. Mit den Medien müsse ein offener, kompetenter und vor allem kontinuierlicher Dialog in Gang gesetzt werden. Jeder Verdacht, die Medien für kurzfristige Imagekampagnen mißbrauchen zu wollen, sei zu vermeiden. In diesem Zusammenhang wurde ein Bedarf an wirklich qualifizierten Presseinformationsreisen angemeldet. Die ausdrückliche Unabhängigkeit der Medienvertreter sei zu gewährleisten, ebenso die Möglichkeit der intensiven Auseinandersetzung mit der Türkei und ihres touristischen wie nichttouristischen Alltags. Die Medien müßten sich auf der Basis intensiver Recherchen vor Ort selbst ein differenziertes Bild machen können – sie müßten andererseits aber auch bereit sein, sich auf eine solche andere Art des Kennenlernens einzulassen.

Die hochkarätige Besetzung der Diskussionsrunde und das offene, sachkundig und engagiert geführte Gespräch ließen erkennen, daß die deutsche Reiseindustrie ein großes Interesse an der Türkei hat, daß man die Türkei nicht fallen lassen will (nicht nur wegen der eigenen Investitionen vor Ort). Deutlich wurde, daß man von der komplexen Realität der Türkei zu wenig weiß und daher das Abgeben von Rezepten an zwei Voraussetzungen geknüpft sein muß: die vorherige Bereitschaft zum wirklichen Verstehen und zum gegenseitigen Zuhören. Die türkischen Gesprächsteilnehmer hatten das Gefühl, daß sich nicht nur die Türken um die Entwicklung des Türkei-Tourismus kümmern.

(10231 Zeichen / 166 Zeilen, Dezember 1999)