Mit über 120 Selbstverbrennungen von Tibetern, vor allem in den tibetischen Gebieten in den chinesischen Provinzen Sichuan und Qinghai, machte Tibet in den letzten vier Jahren immer wieder traurige Schlagzeilen. Es ist eine extreme Form des Protests gegen die chinesische Tibet-Politik und die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen. Wie sich vor diesem Hintergrund der Tourismus in Tibet entwickelt, fragten wir Tsewang Norbu, Vorstandsmitglied der Tibet Initiative Deutschland e.V., die sich für das Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Volkes und die Wahrung der Menschenrechte einsetzt.
TW: Der Tourismus in Tibet hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Wie stellt sich das Tourismus-Szenario heute dar?
Tsewang Norbu:In der Tat hat sich der Tourismus in Tibet in den letzten zehn Jahren gewaltig entwickelt. 2004 haben 1,2 Millionen Touristen Tibet besucht. Die Eröffnung der Eisenbahnlinie von Gormo nach Lhasa 2006 löste einen regelrechten Tourismusboom unter den Chinesen aus. 2007 stieg die Zahl bereits auf über vier Millionen, 2012 hat sie sich auf über zehn Millionen fast verdreifacht. Hiervon dürfte der Anteil der Touristen von außerhalb Chinas gut über 100.000 liegen.
Allerdings handelt es sich hierbei nur um das so genannte Autonome Gebiet Tibet (TAR). Mit 1,2 Millionen km2 macht das TAR fast die Hälfte des eigentlichen Tibets aus und dort leben heute drei Millionen oder etwa 45 Prozent aller Tibeter. Die meisten leben nach der Gebietsreform 1965 in der heutigen chinesischen Provinz Qinghai und in den autonomen tibetischen Präfekturen in den chinesischen Provinzen Gansu, Sichuan und Yunnan.
Es würde durchaus Sinn machen, die Touristenzahl für das gesamte Tibet doppelt so hoch anzusetzen, doch Sehenswürdigkeiten wie die Kumbum-Klosteranlage in Qinghai und Dechen-Dzong ("Shangrila") in Yunnan können mit Lhasa als Touristen-Magnet für Chinesen nicht mithalten. Also ist eine Zahl von 15 Millionen im Jahr 2012 für ganz Tibet realistisch. Damit kann man schon von Massentourismus sprechen.
TW: Inwiefern ist die Tourismusentwicklung problematisch, angesichts der Menschenrechtslage in Tibet?
Tsewang Norbu:Die Menschenrechtslage in Tibet ist nach wie vor sehr besorgniserregend. Im Grunde hat sie sich, bis auf die kurze Zeit der "Liberalisierungspolitik" Mitte der 1980er Jahre, nicht verbessert. Tibeter, die Tibet aus der Zeit der berühmt-berüchtigten Kulturrevolution kannten und jüngst wieder dort waren, berichten unisono, dass heute in Tibet wieder Angstzustände herrschen wie zur damaligen Zeit. Das erklärt zum Teil auch die Ängste von Exiltibetern, Touristen und Touranbietern, die nach ihrer Tibet-Reise nicht mehr bereit sind, ihre Beobachtungen öffentlich kundzutun.
Mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in China begannen ab Mitte der 1990er Jahre die Chinesen, Tibet für sich zu entdecken. Auch wenn darunter viele gläubige Buddhisten sind, sind seit 2006 die meisten von ihnen reiche, schnell abgefertigte Massentouristen, die Tibet zum "Exotikum" degradieren und von oben auf die Tibeter herabblicken. Tibet ist heute für die chinesischen Massentouristen ein "Disneyland" unter eigener staatlicher Kontrolle.
Eine weitere Kategorie von Chinesen, die nach Tibet kommen, stammt aus der Mittel- und Unterschicht und will durch Existenzgründung an der boomenden Tourismusbranche teilhaben. Das bereitet den Tibetern große Sorgen, denn auch wenn dies nicht unbedingt staatlich gelenkt ist, monopolisieren diese Chinesen inzwischen die ganze Tourismusbranche in Tibet mit ihren Familienunternehmen hinter tibetischer Fassade. Dadurch geht der Tourismusboom an den Tibetern vorbei und ihre wirtschaftliche Marginalisierung wird weiter zementiert. Sie zieht auch Diskriminierung nach sich.
Hinzu kommt eine besorgniserregend große Zahl von Jobsuchenden aus China, die für eine Saison oder für eine bestimmte Zeit in das Autonome Gebiet Tibet kommen. Die große Zahl von Chinesen, die als Wanderarbeiter nach Qinghai (Amdo) und in die tibetischen Gebiete in Gansu, Sichuan und Yunnan kommen, wird statistisch nicht erfasst oder veröffentlicht. Differenzen zwischen Tibetern und Chinesen schlachtet der chinesische Staat propagandistisch geschickt aus und wiegelt die einfachen Chinesen auf, die Tibeter als "undankbar" und als "Beschmutzer des großzügigen Mutterlandes" anzusehen.
Schließlich gibt es aber auch Chinesen, die als gläubige Pilger kommen, starke Sympathie für Tibet haben und für die tibetischen Klöster eine wichtige Einnahmenquelle darstellen. Viele chinesische Künstler, Intellektuelle und sinnsuchende Aussteiger kommen nach Tibet, wie die Hippies in den 1970er Jahren nach Nepal und ins indische Goa. Sie haben Kunstgalerien oder Cafés in Lhasa und anderswo eröffnet und reichern die Kunstszene in Tibet maßgeblich an. Das ist durchaus positiv, auch wenn dadurch ungewollt die Sinisierung weiter gefördert wird.
Für ausländische Touristen ändern sich die Bedingungen in Tibet ständig. So ist Individualtourismus in Tibet derzeit praktisch nicht mehr möglich, denn nur eine Gruppe von mindestens zwei Personen mit gleicher Staatsangehörigkeit kann ein China-Visum und eine Reiseerlaubnis nach Tibet erhalten. Je kleiner die Gruppe, umso teurer wird es, denn die Gebühr, die Kosten für Guide und Fahrzeug bleiben gleich. Für die chinesische Behörde lässt sich eine so begrenzte Zahl ausländischer Touristen besser kontrollieren und der Staat verdient dabei kräftig mit.
TW: Was bringt der Tourismus den Tibetern?
Tsewang Norbu:Als Tibetaktivist habe ich die allmähliche Öffnung Tibets für den Tourismus Anfang der 1980er Jahre für positiv gehalten, denn über Touristen, vor allem über Individualreisende, haben wir aktuelle Informationen aus Tibet bekommen, die sogar mit Bild und Ton untermauert waren und die Einschätzungen der Exiltibeter über die Lage in Tibet weitestgehend bestätigten. Das Interesse der Menschen aus dem Westen an Tibet und an der tibetischen Kultur hat die Chinesen zum Umdenken über Tibeter veranlasst und den Tibetern etwas Selbstachtung zurückgegeben, denn für China galt und gilt Tibet als rückständig und seine Kultur als "barbarisch". Ein häufig wiederholter Vorwurf von Chinesen damals lautete: Wir haben so viele wunderbare Sehenswürdigkeiten in China, warum müssen sie immer nach Tibet gehen? Hier entdecke ich eine interessante ungewollte politische Aussage, denn diese Äußerung läuft darauf hinaus, dass Tibet nicht Teil Chinas ist.
Den Tourismus in einer freien Gesellschaft halte ich weiter für einen wichtigen Träger von Informationen und somit auch für ein Mittel zur Völkerverständigung. In einer unfreien Gesellschaft mit staatlich gelenkten Medien, wie in der VR China, kann man das leider nicht sagen. Auch wenn in China die Zahl derer, die Einblick in die tibetische Sichtweise der Geschichte haben, stark steigt, bleibt das bei über einer Milliarde Menschen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn die staatliche Propaganda bei jedem Konflikt zwischen Tibetern, Uighuren oder Mongolen auf der einen und Chinesen auf der anderen Seite den Hass gegen die undankbaren "Minderheiten" schürt, bleibt die Implikation "Minderheit" eindeutig.
Die boomende Tourismusindustrie in Tibet kommt den Tibetern nur am Rande zugute. Ein interessanter Nebeneffekt des Tourismus ist die Tatsache, dass Tibet in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird. Wenn große internationale Tourismusanbieter ihre gebuchten Reisen nach Tibet absagen müssen, kommt man direkt oder indirekt auf die Lage im besetzten Tibet zu sprechen. Das ist eine Folge der Globalisierung und auch China muss damit leben.
Weitere Informationen: www.tibet-initiative.de
(7.579 Zeichen, 101 Zeilen, September 2013)