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Suppe und Wasser ohne Touristen

Ägypten überlebt – irgendwie


Die Revolution kam wie einer der seltenen Gewitterstürme über Ägypten - ohne Vorankündigung, ohne Vorbereitung für die Menschen, für die Wirtschaft oder den Tourismus. Obwohl der Geheimdienst ständig sein Ohr am Volk zu haben glaubte, standen Regierung und Verwaltung vor einem Phänomen, das sich rund um den inzwischen weltberühmten Tahrir-Platz in rasendem Tempo zu einem Sturm des Volkes entwickelte. Mubarak, der verhasste Präsident, trat nach 18 Tagen zurück - und für die Massen schien damit eine prosperierende Zukunft anzubrechen.

Doch diese Zukunft lässt auf sich warten. Die Revolution und ihre direkten Nachwehen fanden in einer Zeit statt, in der die großen Touristikunternehmen die nächste Saison zu planen begannen, Bettenkontingente und Flüge buchten. Nun stornierten sie in rasender Eile Bett um Bett und buchten die eigentlich weitgehend ausgebuchten Osterziele Ägyptens in andere Länder um. Nicht zuletzt, weil das Auswärtige Amt Reisewarnungen auch für die kaum betroffene Küste am Roten Meer bekanntgab und damit die Touristenflucht förderte.

Die Gäste bleiben aus

Innerhalb weniger Wochen leerten sich neben Hotels zahllose Restaurants, Souvenirshops und die sonst so überfüllten historischen Stätten. Die "freischaffenden" Tourguides, Kamel- und Pferdetreiber, Kutschfahrer, Felukenkapitäne und Taxifahrer fanden bald keine Kunden mehr. Die Hotels reduzierten anfangs ihr Personal, bald aber schlossen viele. Vom Roten Meer und dem Sinai fuhren endlose Kolonnen von Hotelbediensteten zurück an den heimatlichen Nil. Schließlich wurde auch dem weitgehend europäischen Management gekündigt.

Der Bonner Generalanzeiger schrieb im April dazu: "Experten haben gute Argumente für die These, dass sowohl der Großstorno der Reiseveranstalter als auch die Ängste wegen Sicherheitsrisiken maßlos übertrieben waren. Ägyptens Revolutionäre zu beklatschen und sie gleichzeitig am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen, ist eine beschämende Strategie. Ägypten braucht Stabilität, Normalität und damit Unterstützung - jetzt, nicht erst in einem halben Jahr."

Die Großfamilie als Auffangnetz

Etwa 2,5 Millionen Ägypter leben direkt oder indirekt vom Tourismus. Vorsichtig geschätzt dürfte mindestens die Hälfte davon ohne jegliches Einkommen in die Arbeitslosigkeit gestürzt worden sein. Man stelle sich eine solche Belastung des deutschen Arbeitsmarkts innerhalb weniger Wochen vor.

In Ägypten gibt es keine offizielle Arbeitslosenunterstützung oder Lohnfortzahlung, obwohl anfangs von Unterstützung dieser Arbeitslosen die Rede war. Angesichts leerer Kassen versickerten die Gespräche zwischen Wirtschafts- und Tourismusministerium im Sand. Das einzige soziale Auffangnetz ist die Großfamilie, in der die Hilfebedürftigen Zuflucht finden. Der arabische Begriff dafür bedeutet "Suppe und Wasser" - das Notwendigste zum Überleben. Dieses seit Jahrtausenden bewährte Prinzip ist nach wie vor intakt und die Familienmitglieder greifen wie selbstverständlich denjenigen unter die Arme, die auf Unterstützung angewiesen sind. Das geht sicher in vielen Fällen bis an die Belastungsgrenze, aber auch diese Grenze lässt sich noch dehnen, wenn alle den Gürtel etwas enger schnallen.

Zugleich versuchen die Betroffenen wenigstens etwas Geld zu verdienen. Auch wenn sie zuvor in Frack, Uniform oder mit Schlips und Kragen arbeiteten, die blanke Not treibt inzwischen viele zu jedem noch so einfachen Job, wenn er denn ein bisschen Geld bringt. Doch in der momentanen wirtschaftlichen Situation sind auch Gelegen­heitsarbeiten nur schwer zu finden, und wenn irgendwo eine Stelle angeboten wird, stürzen sich alle darauf. Das gilt auch für Jobs im noch verbliebenen Tourismus. Sobald bei den Pyramiden ein Besucher gesichtet wird, bestürmen alle selbsternannten Führer, Kamel- und Pferdetreiber den Gast. Lehnt er alle ab, zieht er einen Kometenschweif von Dienstleistern hinter sich her, bis er vielleicht doch noch jemanden aus lauter Selbstschutz engagiert.

"Beschaffungs-Kriminalität"

Das immer schon vergleichsweise friedliche Ägypten ist zwar noch weit von den Kriminalitätsraten europäischer Großstädte entfernt, aber trotzdem ist ein Anstieg der Kriminalität zu beklagen. Das Mubarak-Regime hatte Gefängnistore geöffnet und etwa 40.000 Kriminelle mit der Aufforderung freigelassen, als gewalttätige Gegen­demonstranten zum Tahrir-Platz zu ziehen. Die Bilder von den brutalen Schlägertrupps gingen um die Welt, aber die friedlichen Demonstranten konnten die Schläger schließlich zurückdrängen. Doch die Schießeisen blieben im Besitz der Kriminellen. Hinzu kamen ungezählte Waffen aus den Beständen der Polizei, die Plünderern in die Hände fielen.

Nicht wenige der freigelassenen Gefangenen kehrten wegen Unterkunft und Verpflegung in ihre Gefängnisse zurück. Dennoch kommt es besonders nachts und besonders in Kairo sowie in der Nildelta-Region zu Raubüberfällen. Die Polizei wurde während der Revolution verfemt und hat in ihre gesellschaftliche Aufgabe und Position noch nicht zurückgefunden - Verbrecherjagd oder Aufklärung von Gewalttaten finden kaum statt. Es soll Fälle gegeben haben, in denen Polizisten von Passanten bei der Festnahme von Personen gehindert wurden, weil die Bevölkerung die ehemals Allmächtigen sehr kritisch im Auge hat.

Von der Gewaltkriminalität waren bisher Touristen nicht betroffen. Dennoch verbreiten Medien aller Art immer wieder Horrorgeschichten, die Unsicherheit suggerieren und sowohl Individual- als auch Pauschaltouristen vom Besuch abhalten.

Tourismus als Nothelfer

Alle Hoffnung auf Rückkehr der Touristen hatte sich auf die Herbst- und Wintersaison konzentriert, aber Ende August sah die Buchungssituation weiterhin dramatisch schlecht aus. Doch gerade jetzt hilft ein Besuch in Ägypten den Menschen. Die Reisekosten sind niedrig und der Gast kann, indem er einheimische Dienstleister engagiert, die Not lindern helfen. Außerdem: Die Sehenswürdigkeiten lassen sich in aller Ruhe genießen.

Wil Tondok ist Mitbegründer der Reise Know-How Reihe, schreibt seit 1983 über Ägypten und brachte im März 2011 die 18. Auflage seines Standard-Reiseführers "Ägypten individuell" heraus.

(5.993 Anschläge, 84 Zeilen, September 2011)