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Wo einst ein Fischerdorf war

‘Entwicklung’ an der Küste von Tamil Nadu zehn Jahre nach dem Tsunami


Die Geschichte von Karikkattukuppam ist eine von vielen Geschichten über den Verrat des Staates an der vom Tsunami betroffenen Bevölkerung. Viele Gemeinschaften an der südindischen Küste, die im Dezember 2004 von der “Monsterwelle” betroffen waren, wurden dazu gebracht, ihr angestammtes Land zu verlassen. Sie wurden von der Küste in weiter entfernte Orte umgesiedelt, angeblich aus ‘Sicherheitsgründen’. Statt Bautätigkeiten an der offiziell ‘unsicheren‘ Küste zu verhindern, erlaubte die Regierung privaten Akteuren, das Land aufzukaufen und in Luxus zu investieren.

Auf dem Weg von Chennai entlang der erweiterten Küstenschnellstraße (East Coast Road) Richtung Süden sieht man viele neue Hochhäuser und Bürokomplexe. Riesige Plakatwände werben für Apartments mit ‘privatem Zugang zum Strand’ und ‘Meerblick’. Die meisten dieser neuen Entwicklungen geschahen in den vergangenen zehn Jahren. Biegt man von der East Coast Road ab auf der Suche nach einem Fischerdorf namens Karikattukuppam, gibt es kein Hinweisschild – und kein Lebenszeichen der Fischer. Das Land ist in Parzellen aufgeteilt, das gesamte Gebiet bis zum Strand ist durch hohe weiße Mauern umgeben und unterteilt. Die Leute sagen, hier sollen private Villen oder Ferienhäuser am Meer entstehen.

Es war einmal

Vor zehn Jahren lag dort, wo das Land jetzt als Bauland ausgewiesen ist, das kleine Fischerdorf Karikkattukuppam. Etwa 330 Familien lebten dort. Die Lage war ideal für den Fischfang. Das Dorf lag leicht erhöht und direkt davor war der Strand, wo die Boote lagen und die Fischer ihre Netze ausbreiten konnten.

Dann kam der Tsunami im Dezember 2004. Vier Menschen in Karikkattukuppam starben, 1.320 verloren ihre Heimat. Wenngleich viele Häuser verschont geblieben waren, hatten die Menschen doch zu viel Angst, zurückzukehren – Angst vor einem weiteren Tsunami und vor Geisterspuk. Das kleine Dorf lag Jahre lang noch verlassen da. Es gab einige unbewohnte Häuser, viele davon in gutem Zustand, Schutthaufen dazwischen, einen verlassenen Tempel, eine Schule mit leeren Klassenzimmern. Von Seiten der Regierung hieß es, ihr “Geisterdorf’ sei nicht sicher und eine Umsiedlung wurde ihnen nahegelegt.

Nach dem Tsunami hatte die Regierung des Bundesstaates Tamil Nadu angeordnet, dass diejenigen, die direkt an der Küste innerhalb von 200 Metern von der Hochwasserlinie lebten, ihre Häuser zwar instand setzen dürften, ein Neubau wäre aber “nicht möglich”. Die Regierung würde neue Häuser nur für diejenigen zur Verfügung stellen, die mehr als 200 Meter ins Landesinnere ziehen würden. Wenn die Fischer ihre alten Häuser selbst reparieren wollten, bekämen sie von der Regierung dafür keine Unterstützung. Angeblich ging es um die Sicherheit der Küstenbewohner, doch angewandt wurde diese Regel nur auf Fischerdörfer, nicht etwa auf touristische Infrastruktur. Auf den ersten Blick erschien es wie ein Konzept, das den Gemeinschaften Optionen eröffnete, statt Zwang auszuüben. Effektiv diente diese Politik jedoch dazu, die Fischer dazu zu bringen, von der Küste weiter ins Landesinnere zu ziehen.

Nach dem Tsunami hatte die Gemeinschaft von Karikkattukuppam jahrelang um geeignetes Land an der Küste gekämpft, um ihr Dorf wiederaufzubauen (siehe „Indien: Strategische Vertreibung zugunsten des Tourismus?“, TW 44, September 2006). Die Regierung von Tamil Nadu war jedoch nicht bereit gewesen, ihnen das Land zu geben, wo ihre Notunterkünfte errichtet worden waren. Dieses Land war in den Händen der Tamil Nadu Tourism Development Corporation (TTDC). Nach vier Jahren bekamen sie schließlich neue Unterkünfte in einem neu angelegten Dorf auf der anderen Seite eines Sees, mehr als einen Kilometer vom Meer entfernt. Auf einem gelben Schild steht “Karikkattukuppam”. Doch es ist nicht mehr das, was es einmal war.

Umgesiedelt

“Wir haben unser Land verkauft und das Geld für Netze und Boote ausgegeben und für Arbeiten an unseren Häusern in dem neuen Dorf. Nun ist kein Geld mehr davon übrig”, sagte Desinbu, einer der Fischer. Um den Ort zu erreichen, wo sie ihre Boote liegen haben, müssen die Fischer von dem neuen Dorf aus nun über einen Kilometer weit laufen. Das erschwert ihren Arbeitsalltag erheblich. Sie müssen nun früher aufstehen und leiden unter den körperlichen Strapazen. An der Küste gibt es keinen Platz, wo die  Netze aufbewahrt und getrocknet werden können. “Unsere Motoren und Netze werden gestohlen. Das bedeutet einen riesigen Verlust für uns. Nun tragen wir die Motoren und Netze auf dem Kopf hin und zurück, drei Kilometer am Tag”, sagt Fischer Haridoss. “Und wir müssen mit dieser schweren Ausrüstung durch einen flachen See”. Manches Mal haben die Bauunternehmer auf dem jetzt dazwischen liegenden Land den Weg der Fischer zum Meer blockiert. Das hat Spannungen verursacht. Aufgrund all dieser Probleme haben viele Fischer schließlich aufgegeben, haben ihre Boote verkauft und verdingen sich nun als ungelernte Arbeiter im städtischen Bausektor.

Ähnliche Erfahrungen entlang der Küste

Die Geschichte von Karikkattukuppam ist kein Einzelfall. In den meisten der vom Tsunami betroffenen Dörfer an der indischen Küste gibt es ähnliche Geschichten, die von Vertreibung oder Verdrängung erzählen. In Dhanushkodi in der Nähe des wichtigen hinduistischen Pilgerortes Rameswaram wurden Fischer vertrieben, um touristische Infrastruktur zu entwickeln. In Killai bei Pichavaram, einem beliebten Ausflugsziel in Tamil Nadu, verbietet die Forstbehörde den Fischern, ihre Boote zu parken. Dies geschieht im Namen des Naturschutzes in Pichavaram, einem der größten Mangrovenwälder Indiens, der zum Weltnaturerbe gehört. Doch gleichzeitig wird die Entwicklung touristischer Infrastruktur zugelassen.

Die Regierung hat nach dem Tsunami die Verwundbarkeit der verängstigen Bevölkerung ausgenutzt, um sie von der Küste zu verdrängen. Nachdem die Bewohner von Karikkattukuppam ihr Land verkauft hatten, schossen die Grundstückspreise in der Gegend in die Höhe. Das alte Fischerdorf wurde Stück für Stück aufgekauft und es wurden sehr große Einheiten daraus gemacht. Jetzt ist das Land vollständig in den Händen privater Grundstückseigentümer. Mangalam, eine Fischersfrau, sagte: „Der Tsunami hat uns an nur einem Tag getroffen, doch dass wir unser Land verloren haben, hat unser Leben für immer zerstört.“

Land ist knapp an der indischen Küste und was immer verfügbar ist, befindet sich jetzt in Händen der Eliten. Für die Küstenbewohner war der Tsunami vor zehn Jahren nur der Anfang einer Reihe vieler weiterer Katastrophen, die darauf folgten.

Sumesh Mangalassery ist Direktor von “Kabani – The other direction“, einer Initiative in Kerala/Indien, die sich für eine nachhaltigere Tourismusentwicklung einsetzt.

Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp

(6.510 Zeichen, März 2015, TW 78)