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Westsahara: Tourismus in Flüchtlingslagern

Ein Augenöffner für die Menschenwürde


Jedes Jahr besuchen Tausende von Ausländern aus aller Welt die saharauischen Flüchtlingslager im Südwesten Algeriens: Politiker, Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, Studenten, Forscher, Künstler und Journalisten, selbst Einzelreisende und Familien kommen zu Veranstaltungen, die von den verschiedenen saharauischen Organisationen und Behörden oder von internationalen Akteuren organisiert werden.

Die saharauischen Flüchtlinge kämpfen seit vier Jahrzehnten um die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit von den marokkanischen Besatzern. Deshalb gilt die Westsahara noch immer als Kriegsgebiet. Doch dieser Kampf wurde nie nur militärisch geführt. Es war auch ein politischer, kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Kampf. Im Grunde ist es ein Kampf um das Überleben einer kleinen Nation, den Saharauis, denen durch einen schlimmen und noch immer andauernden Dekolonialisierungsprozess seit den 1970er Jahren wesentliche Grundrechte verwehrt werden.

Es mag überraschen, dass Tausende von "Touristen" dieses "Kriegsgebiet" besuchen, das sich fünfmal pro Woche per Flugzeug von Algier über Tindouf, die nächstgelegene algerische Stadt, erreichen lässt. Damit ihre Rechte international anerkannt werden, haben sich die Saharauis große Mühe gegeben, Besucher aus aller Welt anzulocken. Und sie hatten Erfolg, denn sie haben die einzigen Lager der Welt, die vollständig von den Flüchtlingen selbst gemanagt werden – vertreten durch die Verwaltung und die Behörden der saharauischen Republik, einem Staat im Exil, den die Saharauis 1976 ausgerufen haben. Internationale Hilfsorganisationen, einschließlich des Welternährungsprogramms und des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR), erkennen an, wie effizient und fast "tadellos" die Saharauis eine Krisensituation managen, die sich seit über 37 Jahren hinzieht – und das in einer der unwirtlichsten Wüsten der Welt.

Die Reisenden, die die saharauischen Flüchtlingslager besuchen, finden eine kleine Nation im Exil vor, die sich nicht als Opfer, als arm und verzweifelt ansehen lassen will. Sie treffen vielmehr auf ein stolzes Volk, dem es im Laufe von drei Jahrzehnten gelungen ist, sich im Exil seine eigenen Institutionen aufzubauen und seinen Kindern Bildung zu ermöglichen. Vor allem stellen sie fest, dass es in den Camps kulturelles Leben gibt, eine sehr aktive Zivilgesellschaft und eine aufgeschlossene Nation, die ihren Gästen nicht nur Tee und Gastfreundschaft anbietet, sondern auch Interaktion, Gemeinsamkeit und menschliche Wärme.

Kulturelle Veranstaltungen

Das saharauische Kulturministerium organisiert jedes Jahr in Zusammenarbeit mit internationalen Gebern sowie berühmten Schauspielern und Filmemachern das internationale Filmfestival "FiSahara". Es ist ein bemerkenswertes Festival, nicht nur, weil es in einem Flüchtlingslager organisiert wird, sondern auch weil es eine nicht-kommerzielle, nicht auf Konkurrenz ausgerichtete Aktivität ist, die im Laufe der vergangenen zehn Jahre Tausende von Schauspielern, Direktoren und Insidern der Filmindustrie aus aller Welt zusammenbrachte und es ihnen die Gelegenheit gab, mit den saharauischen Flüchtlingen eine jeweils einwöchige Gala von Filmvorführungen, Parallelaktivitäten, Workshops, Filmproduktionen, Konzerten und offenen Debatten zu erleben. Das Festival ermöglichte den Flüchtlingen, ihre eigene Filmschule zu gründen und viele junge, viel versprechende saharauische Kameraleute und Filmemacher auszubilden.

Ein weiteres wichtiges Kulturereignis, das tausende Teilnehmer anzieht, ist ArtTifariti, eine einen Monat dauernde Feier der Künste: Malerei, Skulpturen, Musik, Schauspielerei. Hier findet ein umfassender, tiefer Erfahrungsaustausch zwischen Künstlern aus aller Welt und saharauischen Künstlern sowie der Gesellschaft statt. Die Organisatoren dieser spontanen Feier der Künste genießen nicht nur die Kreativität und die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, sie zeigen auch die bemerkenswerte und ungewöhnliche Fähigkeit des saharauischen Volkes, Leben und Schönheit in der Wüste zu schaffen.

Auch ein bedeutendes Seminar zum interreligiösen Dialog findet in den Flüchtlingscamps statt. Christen und Muslime treffen sich jedes Jahr in diesen abgelegenen Camps, um zu diskutieren, was die Gläubigen beider Religionen miteinander verbindet und was sie als Menschen auszeichnet, die sich vor allem für Menschenwürde, Freiheit und Integrität einsetzen.

Schließlich bringt auch der internationale Sahara-Marathon jedes Jahr mindestens 200 Athleten aus fünf Kontinenten zusammen, die durch ihre Teilnahme an einem der härtesten Marathons der Welt auch ihre Solidarität mit den Flüchtlingen ausdrücken.

Befreite Zonen

Besuchern wird auch die Möglichkeit geboten, die befreite Zone der Westsahara rund 100 km südwestlich der Camps zu besuchen. Fast zwei Drittel des Gebietes der Westsahara sind noch immer vom marokkanischen Militär besetzt, eingeschlossen durch eine der längsten, aktiv von Militär bewachten Mauern, die je errichtet wurden, und es ist mit Millionen von Landminen verseucht. Rund 160.000 marokkanische Soldaten sind in schwer bewaffneten Militärbasen und -einrichtungen stationiert. Dennoch ist es der saharauischen Befreiungsarmee seit den 1970er Jahren gelungen, ein Drittel des Gebietes zu befreien. Die saharauischen Behörden erhielten die volle Verwaltungshoheit über diese 90.000 km2 umfassende Zone.

Hier können die Besucher saharauische Nomaden treffen – die Bewahrer der traditionellen Kultur dieser Nation. Das Leben der Nomaden ist ein wahrer Augenöffner für diejenigen, die verstehen wollen, wie Menschen mit minimalen Ansprüchen im Einklang mit der Natur leben können. Es ist auch eine Chance, den Reichtum der saharauischen Kultur kennenzulernen, die sich immer nur mündlich ausdrückte: in Gedichten, Geschichten, Rätseln, Volksepen, Sprichwörtern, Liedern und der uralten Weisheit und dem Wissen über die Natur, die das Leben in der Wüste für sie lebenswerter machen als das Leben in den anfälligen und naturfeindlichen Städten und in der "zivilisierten" Welt.

Die Westsahara, ursprünglich bekannt als Saguia El Hamra und Rio de Oro, birgt beeindruckende prähistorische Geheimnisse wie Felsenkunst und Grabstätten. Die saharauischen Behörden wissen um die Bedeutung dieser Funde und sind Partnerschafen mit Universitäten insbesondere in Spanien, Deutschland und Großbritannien eingegangen, um diese bedrohten nationalen Schätze wissenschaftlich zu erfassen und zu schützen.

Begegnungen mit den Menschen

Tourismus kann in der Tat mehr heißen, als sich in Hotels abgeschirmt vom wahren Leben aufzuhalten. In den saharauischen Flüchtlingslagern bietet er Chancen, Menschen und ihre Lebensumstände kennenzulernen und eine Kultur und die Schönheit eines Teils dieser Erde zu entdecken, die durch menschliche Eitelkeit, Gier und gefährliches Verhalten ernsthaft davon bedroht ist, zu verschwinden und zu verfallen.

Das macht einen Besuch in diesen Flüchtlingscamps so wichtig. Hier findet man kein Hotel, kein schickes Restaurant oder riesiges Gebäude, sondern eher ein warmes Zelt oder ein Haus aus Lehm und Backstein, voll menschlicher Wärme, Geschichten, Stolz und Würde. Und schließlich verstehen die Besucher, dass es bei einer Reise mehr auf die Menschen ankommt, die man trifft, und darauf, was man von ihnen lernt, aber auch auf das, was man von sich als Mensch zu teilen bereit ist.

Malainin Lakhal ist saharauischer Journalist im Exil in Algerien. Er ist ehemaliger Geschäftsführer der SahrawiJournalists and Writers Union (UPES).

Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp

(7.352 Zeichen, 100 Zeilen, September 2013)