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Typisch marokkanisch!?

Innensichten auf ein Land im Aufbruch


Fernab der Medina mit ihrem Labyrinth an Gassen, vielen Touristen, unzähligen Souvenirläden und der am Hügel thronenden Kasbah durchqueren wir Tanger auf dem Weg in das Viertel Souani. Hier geht es ruhiger zu als in der Altstadt, wo sich Autos, Mopeds, vollgepackte Karren und Menschenmassen zwischen den dicht an dicht gebauten Häusern drängen. Es ist neun Uhr morgens und die breiten Straßen füllen sich langsam mit Leben. Erwachsene auf dem Weg zur Arbeit, Kinder auf dem Weg zur Schule. Hier sucht man vergeblich nach Geschäften mit marokkanischem Kunsthandwerk und Restaurants mit landestypischer Küche. Stattdessen reihen sich hier im Souk, der Marktgegend, von Souani Metzger an Metzger, Bäcker an Bäcker, Kiosk an Kiosk. Dazwischen eine Reihe von Gemüseständen, eine Apotheke mit blinkender Leuchtschrift und eine Werkstatt mit Ersatzteilen und Werkzeug jeglicher Art. Es ist alles da, was man im Alltag braucht. Souani zählt zu den ärmeren Vierteln von Tanger. Hier hat die Frauenrechts­organisation "Union de l'Action Féminine" (UAF) ihren Sitz. Die nicht-staatliche Non-Profit-Organisation wurde 1987 von zwei Marokkanerinnen in Rabat gegründet. Sie haben es sich zum Ziel gemacht, die rechtliche und gesellschaftliche Situation der Frau zu verbessern. Mit Alphabetisierungskursen und Ausbildungsangeboten, wie zum Beispiel zur Schneiderin, unterstützen sie Frauen bei ihrem Einstieg ins Berufsleben. Um die Frauen zu entlasten, bieten sie außerdem für deren Kinder Französisch-Unterricht an und stellen Bücher und Computer zur Verfügung. In Sensibilisierungs­kursen werden Marokkanerinnen über ihre rechtliche Situation aufgeklärt und es wurden Kampagnen gegen Gewalt gegenüber Frauen ins Leben gerufen. Mittlerweile umfasst die Initiative 33 Niederlassungen, unter anderem in Tanger. "Voluntourism" in Marokko Über ein sogenanntes Voluntourism-Programm können Touristen bei der UAF oder anderen gemeinnützigen Organisationen oder sozialen Einrichtungen in Tanger mitarbeiten. Da ist Martin, Student der Theaterwissenschaften, der sich in einem Kinder- und Jugendtheater an einer seiner ersten Inszenierungen versucht. Oder Claudia, die Afrikanistik studiert und in einem Hilfsprojekt für Flüchtlinge mitarbeitet. Oder Katharina, eine Grundschullehrerin aus der Schweiz, und Bianca, angehende Französisch- und Englischlehrerin, die beide in der UAF Sprachunterricht geben. Was die Freiwilligen verbindet: sie bringen Wissen mit und beherrschen Französisch. Das erleichtert den Austausch mit den Verantwortlichen vor Ort. Zwar kann ein Freiwilliger, der nur für wenige Wochen und zumeist mit wenig Erfahrung am Geschehen teilnimmt, hier wenig beitragen. Trotzdem entsteht beim Voluntourism im Gegensatz zu konventionellen Reiseformen eine besondere Situation zwischen Touristen und Einheimischen, die zu einem völlig anderen Eindruck von der bereisten Kultur führen kann. Die Wahrnehmung der arabischen Länder war in Europa lange Zeit von Pauschalisierungen und Überheblichkeit geprägt. Erst die Revolutionen im Frühjahr 2011 haben dieses Bild ins Wanken gebracht, auch das von Marokko. Marokkanischer Frühling Marokko ist ein Land zwischen Aufbruch und Stagnation, zwischen Wohlstand und Armut. Während die "bleierne Zeit" unter Hassan II. von Repression und Gewalt geprägt war, wird das Land seit 1999 von einem modernen König regiert. Mohammed VI. ist beliebt bei den Marokkanern. Er hat sich durch politische Schritte wie das Familiengesetz zur Stärkung der Rechte der Frauen und der Aufklärung der Verbrechen seines Vorgängers einen Namen gemacht. Trotzdem hat Marokko nach wie vor mit Korruption, Analphabetismus und Arbeitslosigkeit zu kämpfen. So gingen auch in Marokko während des Arabischen Frühlings Menschen regelmäßig auf die Straße. Die "Bewegung des 20. Februar" fordert eine gerechtere Politik und mehr Demokratie, jedoch weiterhin mit Mohamed VI. an der Spitze. Der König antwortete im März mit der Gründung einer Verfassungskommission und präsentierte im Juni Reformen, nach denen er einen Teil seiner Macht abgeben würde. Für die marokkanische Bevölkerung ist dieses Zugeständnis nicht genug. Der Protest geht weiter. Marokko wurde einerseits immer als eines der modernsten arabischen Länder, als westlich orientiert und demokratisch präsentiert, andererseits wurde es auf ein perfektes Reiseziel reduziert, um den Orient in seiner Ursprünglichkeit zu entdecken. Während des Arabischen Frühlings wurde deutlich, dass auch in Marokko in weiten Teilen der Bevölkerung bittere Armut herrscht und die Politik von einer kleinen Elite bestimmt wird. Es hat sich mit der "Bewegung des 20. Februar" aber auch eine Jugend zu Wort gemeldet, die gebildet ist, nach Freiheit strebt und die Zukunft ihres Landes in die Hand nehmen möchte. Unterschiedliche Lebensentwürfe Gerade an den touristischen Plätzen von Tanger trifft man auf jenen malerischen Orient und vor allem auf Menschen, die vom Tourismus leben und mit einer rundum positiven Darstellung des Landes ihre Existenz sichern. Durch die Arbeit in der UAF dagegen werden die Gäste mit Problemen wie Analphabetismus, Diskriminierung der Frau und Armut konfrontiert. Bei der UAF arbeiten Frauen mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen, die sich ihren Unterhalt in einer gemeinnützigen Organisation verdienen und an einem Austausch mit Ausländern interessiert sind. Die eine ist streng gläubig, trägt Kopftuch und Djellaba*, hat Betriebswirtschaftslehre studiert, ist geschieden und alleinerziehend. Die andere erklärt uns, was der Muezzin eigentlich fünf Mal am Tag ruft und was es für ihren individuellen Alltag bedeutet, in einer islamischen Gesellschaft zu leben. Sie trägt Absätze, Jeans, Bluse und offene Haare, hat zwei Kinder, geht am liebsten in Cafés wie das "Glasgow" oder das "Madame Porte" und träumt davon, durch Europa zu reisen. Diese Frauen und ihr Leben im Viertel Souani zeigen den Alltag in Marokko in seiner ganzen Vielfalt und Komplexität. Allerdings bleiben starke Ungleichheiten zwischen uns als Europäerinnen und unseren afrikanischen Gastgeberinnen bestehen. An der Meerenge von Gibraltar trennen Marokko und Spanien nur 14 Kilometer. Die europäische Küste scheint so nah, doch für die visumspflichtigen Marokkaner ist sie so fern. Eine der Verantwortlichen der UAF erklärt uns: "Europa ist ein Kontinent wie jeder andere auch, nur dass die Bewohner mehr Vorteile und mehr Glück haben als wir. Zum Beispiel können sie frei reisen und haben auch die Mittel dazu." Aufgrund der globalen Verteilung von Macht und Wohlstand ist diese Ausgangssituation unumgänglich und kann den Austausch stark erschweren. Doch kritische Touristen, die sich als Gäste und Lernende sehen, geben immerhin Marokko die Möglichkeit, sich von einer ganz neuen Seite zu präsentieren und mit Klischees über die orientalische Kultur und "die Araber an sich" zu brechen. *Traditionelles, lang wallendes Gewand, das einfarbig von Männern und bunt gemustert von Frauen in den Ländern des Maghreb, besonders in Marokko getragen wird. Miriam Gutekunst ist Studentin der Europäischen Ethnologie, Religionswissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 2010 recherchierte sie in Marokko zum Thema Voluntourism. (6.913 Anschläge, 93 Zeilen, September 2011)