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Straßenhändler in Brasilien

Die Dynamik des informellen Sektors


Erzählt von Juraci Sampaio.

Mein Name ist Juraci Sampaio und ich habe eine Geschichte zu erzählen: Ich bin 53 Jahre alt. Geboren wurde ich in Guaraçaí im Bundesstaat São Paulo. Meine Eltern waren Leute vom Lande. Sie hatten einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb und konnten uns eine gute Ausbildung ermöglichen. Meine Mutter war in der Politik aktiv und fuhr einmal im Monat nach São Paulo. Ab dem Alter von sieben oder acht Jahren begleitete ich sie. Inzwischen sind meine Eltern gestorben, doch die Strukturen, die sie hinterließen, waren sehr gut. Heute habe ich ein Haus hier in São Paulo gemietet, wo ich mit meiner Familie lebe – mit meinen Töchtern, meiner Frau und meiner Schwester. Ein eigenes Haus habe ich in Limeira, wo meine Familie herkommt.

Meine Familie ist nicht reich, aber Bildung war meinen Eltern sehr wichtig und das haben wir auch unseren Kindern weitergegeben. Das einzige, was ich meinen Kindern hinterlassen kann, ist das Wissen der Schule des Lebens. Ich denke, jeder Mensch braucht zum Überleben Grundlagenwissen über die Welt und Werkzeuge, um sich durchzukämpfen. Mit am besten von allem, was ich erreicht habe und was mich glücklich macht, ist mein Engagement im Straßenhandel. Ich war gut in der Schule und hatte Gelegenheit, auf zwei Universitäten zu gehen. Von allem, was ich vollbracht habe, ist neben meinen Töchtern meine Arbeit als Straßenhändler das, was ich am spannendsten fand. Wenn der informelle Sektor nicht wäre – ich wüsste nicht, wie mein Leben jetzt aussähe.

Anders als alle anderen

Als ich in den 1980er Jahren selbst noch in der Bradesco-Bank gearbeitet habe, sah ich dort am Largo Treze de Maio in Santo Amaro immer viele Straßenhändler. Alle waren gegen sie. Ich begann mich schlecht dabei zu fühlen, dass ich sie nicht verteidigte, denn wir stammen vom Lande, wo meine Mutter und mein Vater sich immer in der Sozialarbeit engagiert hatten. Plötzlich hatte ich einen Sektor vor mir, dem die Gesellschaft keine Beachtung schenkte. Ich nutzte meine sichere Situation und sagte: "Da mache ich mit, da lässt sich zwar kein Gewinn machen, aber es ist genau das, was ich will." Und in dieser Zeit initiierte ich eine Gewerkschaft.

Ich sehe, wie der informelle Sektor enorm zugenommen hat. Heute gibt es Institutionen, Gewerkschaften, Genossenschaften, die sich der Anliegen der Straßenhändler annehmen. Ich finde es toll, dass es an Universitäten heute Doktoranden gibt, die sich mit dem informellen Sektor beschäftigen. Vor zwanzig Jahren gab es das kaum.

Vier Jahreszeiten an einem Tag

Der informelle Sektor agiert sehr schnell. Es ist ein vernachlässigter Sektor, während die formale Wirtschaft unterstützt wird. Er ist ganz anders als alle anderen. Es ist ein Sektor, den es immer geben wird. Das mindeste, was wir tun können, ist ihn etwas besser zu machen.

Produkte aus ganz Lateinamerika kommen nach São Paulo. Das macht schon einen großen Unterschied im Vergleich zu anderen Städten und Bundesstaaten aus, wo der Handel etwas langsamer abläuft. Hier gibt es eine sehr große Dynamik, hier decken wir alle vier Jahreszeiten an einem Tag ab. Morgens ab fünf Uhr wird Kaffee und Kuchen verkauft. Wenn die Sonne scheint, sind ab acht Uhr Sonnenbrillen oder ähnliches dran. Wenn es regnet, dann Regenjacken, Schirme. Und nachmittags, wenn es kalt wird, Sweatshirts und Jacken. So muss ein Straßenhändler jeden Tag vier Arten von Waren haben, um schnell umstellen zu können. Das ist es, was den Unterschied ausmacht: die Schnelligkeit, während der formelle Handel jeweils nur mit einer Saison arbeitet.

Können Sie sich 150.000 Straßenhändler vorstellen, die tagtäglich arbeiten und jeden Tag im Schnitt drei- bis vierhundert Reais (ca. 100-130 Euro) umsetzen? Wir tragen viel zur Volkswirtschaft bei. Hinzu kommt, wie bequem es für die Menschen ist, jeden Tag nützliche Dinge kaufen zu können. Wenn man heute zum Beispiel vergessen hat, eine Nadel oder einen Apfel zu kaufen, geht man beim Straßenhändler vorbei und nimmt die Sachen mit nach Hause.

Der informelle Sektor hat den Vorteil, dass er einen Teil des großen, formellen Handels unterstützt, der nicht den Service bieten kann, den wir bieten. Deshalb sind es zwei Wirtschaftsbereiche, die zusammenarbeiten sollten. Doch bei Wissenschaftlern und Ökonomen findet man nicht die richtige Denkweise, auch nicht bei der Handelskammer, die anerkennen sollte, dass der informelle Sektor der formellen Wirtschaft hilft. Ebenso wie diejenigen, die Materialien sammeln, die sich recyceln lassen. Sie nützen der Gesellschaft, denn sie entsorgen diese Abfälle und kümmern sich um die Wiederverwertung vieler Dinge, die auf diese Weise zurück in den Wirtschaftskreislauf gelangen.

Steuern zahlen, Rechte sichern

Was die Leute nicht sehen oder nicht sehen wollen: die Straßenhändler wollen auch Steuern zahlen. Es gibt keinen Verkäufer, der sich nicht wünschen würde, dass seine Tätigkeit geregelt wäre, damit er frei arbeiten kann. Heutzutage gibt es mehr Händler, die ohne Lizenz arbeiten, als mit Lizenz, wie der altmodische Hausierer.

Deshalb müssen diese Dinge diskutiert werden: die Dynamik des informellen Sektors, die Steuern und die Rechte der Arbeiter. Denn oft haben sie keine, insbesondere keinen Zugang zur staatlichen Sozialversicherung. Alles ist ziemlich inkohärent. Es muss ein besserer Weg gefunden werden.

Heute haben Straßenhändler auch viele Gesundheitsprobleme. Die Straße bringt viele Krankheiten mit sich: Urin von Ratten oder von Gott weiß was. Es gibt keine sanitären Anlagen, insbesondere nicht für Frauen. Wenn man den ganzen Tag dem Autolärm ausgesetzt ist, wird man taub. Viele leiden unter Rückenproblemen, weil sie ihren Stand auf dem Rücken tragen. Die Gesundheitsversorgung für Straßenhändler ist sehr kompliziert und ein wirklich wichtiges Thema.

Wir müssen lernen, zusammenzuleben. Wir müssen lernen, die Gesellschaft für uns zu gewinnen, denn oft gelten wir als Opportunisten, die nicht arbeiten wollen. Doch das ist nicht richtig. Der informelle Sektor ist für die ganze Gesellschaft von großer Bedeutung und muss sich besser organisieren, um der Gesellschaft zu dienen.

Der öffentliche Raum ist für alle da, nicht nur für Straßenhändler und nicht nur für Fußgänger. Wir müssen ihn so gestalten, dass alle glücklich damit sind. Brasilien ohne Informalität gibt es nicht!

Dieser Beitrag ist ein leicht gekürzter Auszug aus dem Buch "Ambulantes e Direito à Cidade – trajetórias de vida, organização e políticas públicas" (engl. "Street Vendors and the Right to the City", herausgegeben vom Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos. São Paulo, im Februar 2014. Die Geschichten verschiedener Straßenhändler wurden vom Team des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos zusammengetragen.

Weitere Informationen: www.gaspargarcia.org.br

Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp

(6.263 Zeichen, Juni 2014)