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Satire: Karl Tiefengraber in der Bergwildnis

Die Schändung


Andächtig vollzog Karl Tiefengraber seinen morgendlichen Aufstieg zum Vorderen Knopfkogel. Er ging im Bergwald wie in einer Kathedrale, wie in einem Tempel.

Durch die von Zweigen und Blätter gebildeten Fenster schimmerte der beginnende Tag. Geräusche umgaben ihn, wie rituell aufeinander abgestimmt.

Es knackte und klang. Einzelne Töne zagten hervor, wiederholten sich, wechselten sich ab. Die Luft summte. Blätter segelten zu Boden, landeten dort. Nicht geräuschlos, wie es Karl Tiefengraber schien.

Ein Lichtstrahl klang schräg durch den Blättertempel. Aufsteigender Nebel vibrierte an den Bergstämmen entlang nach oben. Im Rhythmus eines wirbelnden Klopfgeräusches. Das war wohl ein Specht? War es einer? Karl Tiefengraber empfand die Töne eines sakralen Orchesters.

Soli stiegen auf, in große Höhen, brachen ab oder schwebten wieder herunter. Es klang zusammen. Die Terz überwog. Karl Tiefengraber hörte aber auch verminderte Quinten heraus. Und anderes, was er im Konzertsaal nicht mochte. Hier war es schön.

Aber dann kamen die Tempelschänder! Karl Tiefengraber hatte seine Schritte sehr verlangsamt, während er das Klangerlebnis genoss. Und da überholten sie ihn. Trapp, trapp, trapp. Und laber, laber, laber. Hatten die kein Gefühl für die Klänge um sich herum? Trapp, trapp, trapp. Und laber, laber, laber.

Ach, die hatten ihre eigenen Töne dabei. Anrufsoftware für ihre Mobiltelefone. Es klingelte aus ihren Rucksäcken, von ihren Gürteln, in ihren Anoraktaschen. Riiing - riiiing - riiing! Aijaaaoo - aijaaaoo - aijaaaoo! Fiiiiiep - fiiiiiep - fiiiiiep. Und so ähnlich. Und so weiter. Karl Tiefengraber ärgerte sich.

Auch "Liedgut" war dabei. Vom Torero, der auf in den Kampf zieht. Vom oh du schöner Westerwald. Vom guten Mond, der so stille steht...

In Karl Tiefengraber fraß der Ärger.

Da halfen auch die "Klassiker" unter den Tempelschändern nicht. Die Elise konnte ihn nicht versöhnen. Die Kleine Nachtmusik auch nicht, zumal es inzwischen helllichter Tag war. Freude kam trotz schönem Götterfunken nicht auf. Nur Ärger. Beklemmung stellte sich ein.

Auf Karl Tiefengrabers Stirn trat vermehrt Schweiß. Sein Kopf brummte! Sein Herz auch! Er griff sich an die Brust! Ach!!

Nein, es war nichts Ernstes. Nur der Vibrationsalarm von seinem Handy.

(2.246 Anschläge, 32 Zeilen, Dezember 2002)