Blog

Prostitution mit Kindern: Gegen das Wegsehen

Scheitert die Aufklärung durch Reiseveranstalter an fünf Gramm?


Das schnelle Wachstum der Tourismusindustrie bringt nicht nur ökonomische Vorteile, sondern ist auch verantwortlich für negative Auswirkungen in den bereisten Ländern. Ein Beispiel: Vor allem in den vergangenen Jahren entwickelte sich die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern im Tourismus (CSEC1) zu einem gravierenden Problem.

Der international boomende Tourismus ist zwar nicht Ursache des Phänomens Sextourismus mit Kindern, erleichtert aber Freiern aus der ganzen Welt den Zugang. Somit trägt auch die Tourismusbranche soziale Verantwortung. Die alarmierende, steigende Anzahl von Kindern, die jedes Jahr zum Sexgewerbe gezwungen werden, gab Anlass, dieses Thema zu enttabuisieren und Prostitution mit Kindern aktiv zu bekämpfen. 1996 und 2001 wurden zwei "Weltkongresse gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern" veranstaltet, um alle Gesellschaftsbereiche zu sensibilisieren, aktiv dagegen vorzugehen. Die Tourismusbranche wurde weltweit aufgefordert, zu handeln und ihren Kunden gegenüber zum Ausdruck zu bringen, dass sie sich von dieser Art von "Serviceleistung" klar distanziert.

Seit dem Ersten Weltkongress fand ein Umdenken in der Reiseindustrie statt, die sich zunehmend ihrer Verantwortung bewusst wurde. Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen ihr und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in diesem Bereich bis mindestens in die frühen 1990er Jahren zurückreicht, ließen die Ergebnisse eher zu wünschen übrig. Seit dem Ersten Weltkongress allerdings unterzeichnete eine Vielzahl von internationalen Tourismusverbänden Erklärungen gegen CSEC. Allen Erklärungen ist jedoch eine gravierende Schwachstelle gemein: Die Entwicklung und Umsetzung konkreter Maßnahmen standen dabei nicht im Mittelpunkt. Deshalb blieben die konkreten Maßnahmen weit hinter den Erklärungen zurück. Mit Hilfe konstruktiver Kritik riefen viele Akteure die Tourismusbranche auf, konkret zu werden. So wurde 1998 auf Initiative von ECPAT 2 (Schweden), in Zusammenarbeit mit der WTO 3 und skandinavischen Reiseveranstaltern ein "Verhaltenskodex zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung im Tourismus" entwickelt. Er enthält sechs Kriterien. Damit bekamen die Reiseveranstalter ein wirksames Instrument in die Hand, konkrete Maßnahmen innerhalb ihrer Unternehmen umzusetzen. Nach schwedischem Vorbild erarbeiteten weitere europäische ECPAT-Gruppen Verhaltenskodizes mit der Tourismusindustrie.

Entgegen dem schwedischen Vorbild wurde der Verhaltenskodex in Deutschland nicht mit einzelnen Veranstaltern vereinbart, sondern mit dem "Deutschen Reisebüro und Reiseveranstalter Verband (DRV)". Im Januar 2001 verpflichteten sich alle Mitglieder des DRV zur Umsetzung des Verhaltenskodexes. Konkret bedeutete das:

  1. Erstellung des Aufklärungsfaltblattes "Kleine Seelen, Große Gefahr!" durch den DRV - in Zusammenarbeit mit ECPAT - zum Schutz der Kinder vor sexueller kommerzieller Ausbeutung.
  2. Information und Sensibilisierung von Mitarbeitern im Herkunftsland und im Zielland anhand der vom DRV - in Zusammenarbeit mit ECPAT - erstellten Schulungsbroschüre "Aktiv zum Schutz der Kinder vor kommerzieller sexueller Ausbeutung".
  3. Weitestmögliche Aufnahme von Vertragsklauseln mit Hotels, Incoming-Agenturen und anderen Leistungsträgern oder sonstige geeignete Maßnahmen, die eine gemeinsame Ablehnung der sexuellen Ausbeutung von Kindern deutlich machen.
  4. Information und Sensibilisierung der Kunden beispielsweise durch Verteilung des Aufklärungsfaltblattes durch die DRV-Mitgliedsunternehmen im Herkunftsland oder durch Reiseveranstalter im Zielland.
  5. Aufnahme der Thematik in Schulungen für Mitarbeiter, Expedienten und vor Ort tätige Reiseleiter.
  6. Berücksichtigung des Verhaltenskodexes bei der Festlegung von Unternehmens-grundsätzen.
  7. Jährlicher Bericht des DRV über durchgeführte Maßnahmen bezüglich des Verhaltenskodexes.

Im Rahmen ihrer Diplomarbeit ging die Autorin der Frage nach, inwieweit die Reisebranche ihrer Selbstverpflichtung nachgekommen ist. Fast alle Vertreter der namhaften deutschen Reiseveranstalter zeigten sich zu einem Interview bereit. Lediglich die TUI verweigerte ein persönliches Gespräch und beantwortete stattdessen die Fragen per E-mail. Außerdem analysierte die Autorin Reisekataloge und befragte Reisende am Frankfurter Flughafen zu ihrem Wissensstand über den Verhaltenskodex.

Das Ergebnis lässt zu wünschen übrig. Obwohl einige Unternehmen begonnen haben, die Anforderungen des Verhaltenskodexes umzusetzen, entspricht der heutige Ist-Zustand keinesfalls dem selbstverpflichteten Soll-Zustand.

Konkret lassen sich folgende Defizite bei der Umsetzung des Verhaltenskodexes zusammenfassen:

1. Vertragsklausel Die Klausel, dass Kinderprostitution im jeweiligen Vertragshotel nicht geduldet wird, ließen die befragten Veranstalter nur in einigen wenigen Destinationen in die Vertragsvereinbarungen einfließen. Ein einziges Unternehmen arbeitete die Klausel weltweit in alle Verträge mit Hotels ein.

2. Schulung der Mitarbeiter Schulungsmaßnahmen werden nicht allen Mitarbeitern angeboten. Wenn überhaupt, wurden Reiseleiter zur Problematik geschult. Einzelne Unternehmen bezogen Verkäufer und Führungskräfte im Außendienst mit ein. Ein flächendeckendes Angebot von Schulungsmaßnahmen für Mitarbeiter ist nicht erkennbar. Reisebüroangestellte erhielten bislang überhaupt keine Möglichkeit dazu.

3. Sensibilisierung der Kunden Die Ergebnisse der schriftlichen Befragung von Reisenden am Frankfurter Flughafen zeigen, dass der Verhaltenskodex und das Aufklärungsfaltblatt "Kleine Seelen, große Gefahr" kaum bekannt sind. Hauptdefizit ist die Aufklärung der Kunden im Vorfeld der Reise. Laut der befragten Reiseveranstalter werden die meisten Kunden erst im Zielgebiet aufgeklärt. Das Faltblatt wird den Kunden nur angeboten, nicht aber automatisch überreicht. Ebenso werden in fast allen Reisekatalogen Hinweise zur Problematik nicht deutlich und offensiv genug ins Blickfeld des Lesers gerückt. Dieser mangelhafte Zustand wird durch die Wahrnehmung der befragten Reisenden bestätigt. Obwohl 69 Prozent der Befragten mit einem Veranstalter verreisten, fielen die Hinweise in den Reisekatalogen nur fünf Personen vor Antritt der Reise auf. Bei einigen kleineren Veranstaltern sind überhaupt keine Hinweise zu finden, obwohl auch sie Mitglied beim DRV sind. Allgemein lässt sich in den Katalogen feststellen, dass der Darstellung von Umweltschutzmaßnahmen ungleich mehr Gewicht zukommt als der Aufklärung über Prostitution mit Kindern. Das eigene Engagement zum Kinderschutz wird nicht konkret beschrieben. Reisende erhalten keine Verhaltensempfehlungen, wie sie in einem Verdachtsmoment reagieren sollten.

4. Integration des Verhaltenskodexes in die Unternehmensgrundsätze Laut der befragten Reiseveranstalter hat nur ein Anbieter diese Forderung realisiert. Da zu dieser Frage keine Angaben gemacht wurden bzw. keine niedergeschriebenen Unternehmensgrundsätze existieren, können keine Aussagen zum Umsetzungsstand dieses Kriteriums getroffen werden.

5. Berichtswesen Weder der erste noch der zweite Jahresbericht des DRV über durchgeführte Maßnahmen enthielt quantitative Aussagen, die eine eindeutige Einschätzung zum Umsetzungsstand des Verhaltenskodexes zuließen.

Mangelnde Transparenz und Vermittlung

Das abschließende Urteil der Untersuchung lautet: Der Umsetzung des Verhaltenskodexes mangelt es an Transparenz. Es ist nicht nachvollziehbar, inwiefern die einzelnen Mitglieder ihrer Selbstverpflichtung nachkommen. Weder lässt der Bericht des DRV über durchgeführte Maßnahmen eine Aussage zum Umsetzungsstand zu noch treten einzelne Unternehmen von sich aus an die Öffentlichkeit, um ihr Engagement konkret zu beschreiben.

Ein weiteres Problemfeld ist die Kommunikation der Aktivitäten der Reisebranche zum Kinderschutz sowie die Sensibilisierung der Kunden. Die Branche konnte ihr Engagement nicht in der aktiven und offensiven Art und Weise vermitteln wie es im Rahmen dieses Projektes notwendig wäre. Dementsprechend wenig wissen die Kunden über den Verhaltenskodex und das Faltblatt. Hat die Tourismuswirtschaft Berührungsängste mit diesem für sie unangenehmen Thema oder befürchtet sie einen Imageschaden? Vorwürfe wies die Reisebranche entschieden zurück. Im Gegenteil, es schade ihrem Image, "solche Kunden" zu haben. Mit "diesen Kunden" möchte man nicht sein Geld verdienen. Warum dann der zögerliche Umgang mit dem Thema und der Umsetzung des Verhaltenskodexes?

Die befragten Vertreter versicherten, dass ihre Unternehmen absolut hinter dem Verhaltenskodex stünden und sie dies als Imagegewinn sähen. Auch glaubt niemand der Befragten, dass es Berührungsängste mit dem Thema gebe. Man brauche nur mehr Zeit, um alle Anforderungen der Reihe nach umzusetzen. Außerdem könne man nicht allen Kunden vor Antritt der Reise das (fünf Gramm schwere) Aufklärungsfaltblatt zukommen lassen, da dies die Portokosten sprengen würde. Demnach scheint die Umsetzung des Kodexes nicht nur an Zeit, sondern auch am Geld zu scheitern. Die Reiseteilnehmer würden jedoch das soziale Engagement der Veranstalter honorieren, die durch den klaren Imagegewinn sogar steigende Marktanteile verbuchen könnten.

Die Reiseindustrie ist weltweit der stärkste Partner im Kampf gegen das Verbrechen an Kindern. Auch bei den deutschen Verantwortlichen ist ein hohes Problembewusstsein verankert. Selbst wenn die Umsetzung des Verhaltenskodexes bisher nur partiell durchgeführt worden ist, bleibt die Hoffnung, dass die Verantwortlichen Kinderschutzmaßnahmen nicht an zu hohen Portokosten scheitern lassen. Einzelne Umsetzungsschritte wurden bisher in Angriff genommen. Es gilt nun, diese systematisch auszubauen und zu intensivieren. Die Tourismusbranche muss sich als wichtigster wirtschaftlicher Partner bei der Bekämpfung des Problems bewusst sein, dass nur über eine breite Sensibilisierung ihrer Kunden und Angestellten das "Wegsehen" überwunden werden kann.

Fussnoten: 1 CSEC Commercial Sexual Exploitation of Children 2 ECPAT (engl.) End Child Prostitution, Child Pornography and Trafficking of Children for Sexual Purposes (deutsch) Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung 3 WTO Welttourismus Organisation, Madrid

Die als Publikation aufbereitete Diplomarbeit von Sabine Minninger wird voraussichtlich im August 2004 in der Reihe "Dialog" erscheinen. Herausgeber ist der Evangelische Entwicklungsdienst, Bonn. Das Heft (ca. 80 Seiten) ist kostenlos und kann per e-mail beim EED angefordert werden (info@eed.de oder tourism-watch@eed.de).