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Natur- und Wildparks vertreiben indische Ureinwohner


Seit Jahrzehnten kämpfen Adivasi ("Erste Siedler") in Indien um den Fortbestand der natürlichen Umwelt als Basis für ihr kulturelles Überleben. Sie bestreiten zwar ihren Lebensunterhalt aus den Produkten des Waldes, aber schützen ihn ebenso augenscheinlich vor seiner Vernichtung. Die Bedeutung der indigenen Völker (Ureinwohner) als Garanten für den intakten Fortbestand der Rückzugsgebiete seltener Tier- und Pflanzenarten hat die 1992 in Rio den Janeiro verabschiedete Agenda für das 21. Jahrhundert aufgegriffen und die Regierungen gemahnt, die Rolle der Ureinwohner zu stärken. Gleichwohl müssen die rund 70 Millionen Adivasi in Indien erbittert um ihre Anerkennung kämpfen.

Die Weltbank und der Fonds für die Global Environmental Facility (GEF) stellen viele Millionen Dollar für die Schaffung und den Unterhalt von über 50 Nationalparks in Indien zur Verfügung. Allein im Bundesstaat Madhya Pradesh werden mit Weltbankgeldern insgesamt 27 Nationalparks und Wildreservate eingerichtet. Für den Nagarhole-Park im Bundesstaat Karnataka stellt die Weltbank knapp 96 Millionen US-Dollar über einen Zeitraum von fünf Jahren zur Verfügung. Im Jahr 1996 unterzeichnete die Weltbank ein weiteres Abkommen mit Indien über 67 Millionen US-Dollar zur Einrichtung von sieben Wildtierparks, die von globaler Bedeutung für die biologische Vielfalt sind. Hier soll die lokale Bevölkerung in den Schutz des Wildes mit einbezogen werden.

Seit 1991 wurden über 600.000 Adivasi vertrieben; darunter aus den Tiger-Reservaten in Kanha und Bandhavgarh, aus den Waldgebieten in Panchmari, Achanak Marg, Satpura und aus dem Wildpark Biro im Bundesstaat Madhya Pradesh. Bei ungebrochener Fortsetzung dieses Programms wird mit weiteren 1,5 Millionen Vertriebenen gerechnet. Im Bundesstaat Karnataka haben zwei Angehörige der Gowdlu aus Verzweiflung den Freitod gewählt und Gift getrunken, nachdem sie die amtliche Aufforderung zum Verlassen ihres Wohnortes wegen des geplanten Kudremukh-Nationalparks erhielten.

Waldpolitik in Indien

Die Zerstörung der indischen Wälder begann unter der britischen Kolonialherrschaft. Die Briten wandelten riesige Waldgebiete in Kaffee- und Tee-Plantagen um oder gaben sie per Gesetz für den Holzeinschlag frei. In der Folge wurden zahlreiche Adivasi-Gemeinschaften zwangsassimiliert, in andere Gegenden umgesiedelt oder einfach zum Verschwinden gebracht.

Dieser Denkansatz liegt auch noch den heutigen Forstgesetzen Indiens zugrunde. So gesteht das im Jahr 1972 verabschiedete Gesetz zum Schutz des Wildes und der Natur den Waldbewohnern kaum Rechte zu. Insbesondere Gewohnheitsrechte zur Nutzung des Waldes und seiner Produkte werden ausgeklammert. Dafür ist in jedem einzelnen Fall ein eigenes gesetzliches Verfahren sowie eine politische Entscheidung der Landesregierung notwendig. Diese nutzen aller Erfahrung nach die Ausweisung des Waldes als Naturschutzgebiet eher dazu, traditionelle Land- und Nutzungsrechte auszuhebeln. Hinzu kommt die sprichwörtliche Korruption der zuständigen Behörden. Ein Gesetz aus dem Jahr 1991 bezeichnete gar alle Adivasi, die innerhalb eines ausgewiesenen Waldschutzgebietes leben, als illegale Bewohner.

Naturschützer versagen

Aus dem Lager der überwiegend städtischen Naturschützer interessierte sich bislang kaum jemand für die in den Wäldern lebenden Menschen. Der WWF-Indien mahnt lediglich, die Regeln über die Ansiedlungen der lokalen Bevölkerung in Naturschutzzonen präziser zu fassen, reagierte jedoch auf die Vertreibungen der Adivasi im Zuge der Einrichtung von Wald- und Tierschutzgebieten bislang mit Schweigen. Der Schutz der Tiger ist dagegen eine in der Öffentlichkeit verfochtene Herzensangelegenheit. Immerhin

setzt sich der WWF neuerdings in einem Pilotprojekt ("Green Guards/Grüne Wächter") für die aktive Beteiligung der lokalen Bevölkerung beim Naturschutz ein. Gegen Wilderei und illegalen Handel mit Waldprodukten hilft die Kontrolle durch die lokale Bevölkerung immer noch am besten.

Es gibt schlimmere Mißachtungen der Adivasi. Die staatliche Menschenrechtskommission unterstützt mit Nachdruck selbst die zwangsweise Umsiedlung der Adivasi, um sie aus ihren "primitiven Lebensumständen" herauszuholen. Die Wildlife Conservation Society in New York äußerte sich unterstützend: "Der einzige Weg, die Nationalparks zu schonen, ist, die Stammesvölker hinauszuwerfen". Für die Adivasi ist das Ergebnis in allen Fällen fatal: Der Rausschmiß aus den gewohnten Lebensumständen endet im Slum und soziokultureller Verelendung.

Das Beispiel Nagarhole

In den Regenwäldern von Nagarhole im Bundesstaat Karnataka leben seit dem 7. Jahrhundert über 6.000 Angehörige der Soliga, Jenu Kuruba, Betta Kuruba, Paniya und Panjari Yerava in 56 Siedlungen ("Hadis"). Es gibt eine Vielzahl heiliger Orte im Wald, und in jedem Jahr findet eine Zeremonie statt, in der die Adivasi die Ahnengeister über die weitere Entwicklung der Gemeinschaft befragen. Ein Überleben als eigenständige Kultur ist ohne den Wald nicht möglich.

Die ersten zerstörerischen Eingriffe in das Biosystem der Nagarhole-Wälder erfolgten im vergangenen Jahrhundert durch Jagdexpeditionen des Maharajas von Mysore, später durch Holzfäller, Kaffee- und Teakplantagen. Viele Adivasi wurden zwangsumgesiedelt.

Unter der indischen Regierung wurde das Gebiet im Jahr 1955 für den Nationalpark ausgewiesen. Im Jahr 1988 wurde der auf Rajiv Gandhi getaufte Nationalpark erweitert und ist heute Teil des Nilgiri-Biosphären-Reservats.

Die verbliebenen Adivasi wurden zunächst geduldet, mußten aber ihren Ackerbau einschränken. In den 80er Jahren wurde ihnen die Haltung von Vieh und die Nutzung der Sümpfe für den Reisanbau verboten. Sie sollten sich quasi nur noch von Aas, Ungeziefer und pflanzlichen Waldprodukten ernähren. Viele Familien verließen daraufhin ‚freiwillig‘ den Wald; ohne Entschädigung. Das im Jahr 1995 eingerichtete Kabini-Reservoir führte nochmals in größerem Maße zur Vertreibung, die bis heute immer wieder Familien betrifft.

Das Beispiel Semarsot

Seit 1972 liegen Pläne zur Einrichtung von 35 Naturschutzgebieten im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh vor. Das teilweise von der Weltbank finanzierte Projekt soll ca. 450 Mio. DM kosten. Die Betroffenen erfuhren von diesem Projekt erst im Jahre 1986. Nach starkem Protest versanken die Pläne bis 1996 in der Schublade. Im Oktober 1996 veröffentlichte die Landesregierung eine zweite Mitteilung und stellte die Beschlagnahme von knapp 43.000 Hektar in Aussicht.

Der Semarsot-Tierpark würde 51 Dörfer zur Umsiedlung zwingen und insgesamt 35.000 Menschen vertreiben. 95 Prozent von ihnen gehören Adivasi-Völkern an, darunter 18.000 Angehörige der Korwa und Korku, die besonders eng mit der natürlichen Umgebung verwachsen sind. Trotz mehrfachem Protest von Tausenden Ende 1996 und Anfang 1997 lassen die politisch Verantwortlichen nicht von den Plänen ab.

Partizipativer Naturschutz

Im Unterschied dazu ging die Forstbehörde in der Region Kamghaon (Bundesstaat Maharashtra) 1996 eine Zusammenarbeit mit ca. 6.000 Angehörigen der Mahadeo Koli zum Schutz des Waldes ein. Insgesamt 27 gemeinsam besetzte Komitees wachten über den Wald. Die Adivasi konnten den Wald entsprechend ihrer Tradition nutzen und Schnittgras, Sprößlinge und eßbares Harz verkaufen. Gleichzeitig sorgten sie dafür, daß der Wald nicht überweidet und kein Holz illegal eingeschlagen wurde. Die Forstbehörde ermächtigte sie sogar, illegal weidendes Vieh zu konfiszieren. Das Experiment gefiel jedoch nicht allen und wurde hintertrieben. Lokalpolitiker der nationalistischen Hindu-

Partei BJP wiegelten Viehzüchter auf, ihre Herden in den Wald zu treiben. Die dreiste Konfrontation zeigte Wirkung. Einige der Komitees trauten sich nicht mehr auf Kontrollgänge, zumal die staatlichen Wildschützer ihnen nicht mehr den Rücken stärkten. Allerdings führten die fehlenden Kontrollen sofort dazu, daß der illegale Holzeinschlag um ein Vielfaches zunahm. Im Jahr 1998 wurde der Verlust auf 200.000 Bäume geschätzt. 1999 waren es bereits 3 Millionen. Auch im 1992 eingerichteten Buxa-Tiger-Reservat im Norden von Westbengalen nahm das illegale Holzfällen sprunghaft zu, nachdem die Rabha-Adivasi ihre nächtlichen Kontrollgänge stoppten.

Widerstand

Viele von Naturschutzzonen betroffene Adivasi sprechen sich nicht grundsätzlich gegen die Einrichtung von Naturschutzgebieten aus. Sie wehren sich jedoch gegen Vertreibung und den Verlust ihrer Lebensgrundlagen. Aufgrund der schlechten Erfahrungen protestieren über 10.000 Adivasi gegen die Beschneidung ihrer Rechte in 14 Nationalparks. In Similipal (Bundesstaat Orissa) wehren sich vier Dörfer seit über zwei Jahrzehnten gegen die Einrichtung eines Nationalparks. Um den Frei- und Verhandlungsspielraum für die Adivasi zu vergrößern, ist allerdings weitere Unterstützung nötig. Am besten unter Einschluß derjenigen, die mit der Einrichtung solcher Schutzzonen zu tun haben: die Weltbank und insbesondere der WWF, der World Wide Fund for Nature.

Informationen über eine Kampagne der GfbV gegen die Vertreibungen durch Nationalparks in Indien sind beim GfbV-Bundesbüro, Abt. Indigene Völker, erhältlich: Postfach 2024, 37010 Göttingen, Tel. 0551/499060, Fax 58028, Email: info@gfbv.de, Website: www.gfbv.de

Vgl. auch TW15 (März 1999), Buchbesprechung S. 19, "Social Change and Conservation".

(8019 Zeichen, 130 Zeilen, März 2000)