UN-Gedenkjahr zur Abschaffung der Sklaverei
"Sklavenhandel gab es nur von Afrika nach Amerika. Die alten Stätten und Sklavenforts kann man in Ghana als Touristenattraktion besichtigen", erzählte der Globetrotter,"bei uns gab es keine organisierte Sklaverei". Falsch, ganz falsch.
Was waren denn die "Zwangsarbeiter" im Zweiten Weltkrieg, die auf Englisch richtigerweise "slave labourer"(Sklavenarbeiter) heißen? Und was ist heute mit den Mädchen und Frauen aus Osteuropa, die ZuhälterInnen unter sich verschieben und verkaufen? Denen die Pässe weggenommen werden und die in unserem Rechtsstaat nicht einmal dann geschützt sind, wenn sie unschuldig in ihr Sklavendasein schlitterten. Was ist mit rumänischen "Klaukindern" oder einigen Hausangestellten in diplomatischen Häusern, deren Visum an den Arbeitgeber gebunden ist?
Kaum jemand hat mitbekommen, dass 2004 als UN-Jahr zum Gedenken an den Kampf gegen die Sklaverei und ihre Abschaffung ausgerufen wurde oder dass der 2. Dezember alljährlich als internationaler Gedenktag zur Abschaffung der Sklaverei begangen wird. Vielleicht nicht ohne Grund. Denn Sklaven- und Menschenhandel gedeihen prächtig und sind weltweit traurige Realität. Die britischeMenschenrechtsorganisation "Anti-Slavery International" schätzt, dass 27 Millionen Menschen als Sklaven oder insklavenähnlichen Verhältnissen leben. Wer mit offenen Augen reist, kriegt einiges mit. Insbesondere bei der gnadenlosen Ausbeutung von Kindern. Aber die meisten Formen der heutigen Sklaverei sind unsichtbar. Klassische Sklavenmärkte gibt es kaum noch.
"Schwabenkinder"
Eine Art Sklavenmarkt gab es sogar in Deutschland, nämlich im schwäbischen Allgäu. Bis weit ins vergangene Jahrhundert hinein wurden dort arme Kinder aus Bergdörfern in Vorarlberg,Tirol, dem heutigen Südtirol und Graubünden auf Gesindemärkten an Bauern und Haushalte verkauft. Bis zu 6000 KinderarbeiterInnen schufteten jährlich von Frühjahr bis Herbst zwischen Ulm und Bodensee für Peanuts und gingen in dieser Zeit auch nicht zur Schule. Dieses düstere Kapitel deutscher Menschenrechtsverletzungen erreichte erst in den vergangenen Jahren das Licht der Öffentlichkeit und ist weitgehend unbekannt. Noch leben einige der sogenannten Schwabenkinder, die damals zwischen sieben und 14 Jahre alt waren. Die meisten schwiegen und verdrängten. Sie mochten oder konnten über diese Zeit genausowenig reden wie Überlebende des Holocaust oder Opfer sexuellen Mißbrauchs. Fragen Sie einmal bei Ihrem nächsten Allgäu-Urlaub in Ravensburg nach, wo es damals den größten Kindermarkt gab, oder in Wangen, Tettnang, Friedrichshafen und Überlingen. Dokumentiert ist lächerlich wenig.
1892 schrieb die Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge: "Es ist für das Land Württemberg beschämend zu sehen, wie wohlhabende Bauern in ihrem Geiz, bloß um einen Knecht oder eine Magd zu sparen, die Kinder von armen Eltern schinden und plagen". Schläge und Hunger waren an der Tagesordnung. Auch sexueller Missbrauch durch die"Herrschaften" kam vor. Junge schwangere Dienstmädchen konnten sich nicht mehr zurück nach Hause wagen.
Ein alter Österreicher erzählte im SWR-Film "Wir Schwabenkinder" (s.u.) über seine Zeit als misshandelter Hütejunge, wie er sich mit hungrigem Magen die Nase an der Scheibe plattdrückte, wenn drinnen die Bauern beim Essen saßen. Auch er hatte lange geschwiegen: "Aber ich habe es nie vergessen, nie. Wie ich da gefroren habe, wie ich barfuß gewartet habe, dass eine Kuh geschissen hat und mich dann reingestellt habe, um warme Füße zu bekommen". Mit dem Urin der Kühe machte er sich die Füße wieder sauber.
Die Fußmärsche der Schwabenkinder über die verschneiten Pässe, beispielsweise aus dem verarmten Vinschgau(Südtirol), begannen jeweils im März "um Josephi", weil die Sklavenmärkte in Oberschwaben am Josephs-Tag, dem 19. März, stattfanden. Erst im Oktober konnten sie zurückkehren.
Die 300jährige Praxis dieser Kindersklaverei, die wir in ganz ähnlicher Form heute vor allem in Entwicklungsländern beobachten können, zog sich - wenngleich ab den 20er Jahren mit stark abnehmender Tendenz - bis nach dem 2. Weltkrieg hin. Erst der Tourismus half, die Lebensbedingungen in den Bergdörfern zuverbessern.
FERNSEHFILME
"Schwabenkinder"
Spielfilm/Heimatdrama, BR (mit SWR, arte, ORF, SF/DRS) 2003,110"
Spielfilm von Jo Baier
2003: Zuschauerpreis 3sat + deutscher "Fernsehoscar" =Fernsehfilmpreis der Fachjury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste,Baden-Baden (zuletzt auf BR 3 am 4.4.2004)
"Daheim wären wir verhungert. Kinderarbeit in Schwaben"
Dokumentarfilm, BR 2003, 45"
Ángelika Sigl (zuletzt auf BR 3 am 13.4.2003)
"Nur ein Stück Brot . Das bittere Los derSchwabenkinder"
Dokumentarfilm, BR 2003, 25"
Angelika Sigl
Kurzfassung von "Daheim wären wir verhungert" (zuletztauf BR 3 am 4.4.2004)
Schwabenkinder - Schutzputzkinder in Bolivien
Magazinbeitrag/Vergleich im Religionsmagazin
"Orientierung", ORF (Österreich) 2003, 7" (zuletztauf 3sat, 14.4.2003)
"Wir Schwabenkinder - Kinderarbeit und Kindermärkte inOberschwaben"
Dokumentarfilm, SWR 2000, 30"
Valentin Thum (zuletzt auf 3sat, 20.12.2003)
Literatur:
Elmar Bereuter: Schwabenkind (Roman), Piper, München 2004, SeriePiper/Tb Nr. 04066, ISBN 3-4922-4066-6
Otto Uhlig: Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, Univ.-VerlagWagner,
Innsbruck 1998, 384 S., 40 Taf., ISBN 3703003200
"Verdingkinder" in der Schweiz
Auch in der Schweiz gibt es in dieser Hinsicht ein großesunbewältigtes Kapitel. Dort wurden zwischen 1800 und 1950 Waisen-und Scheidungskinder, aus Not abgegebene, uneheliche und sogenannte milieugeschädigte Kinder von den Armenbehördenungefragt auf Bauernhöfe verteilt. Anstatt ihnen Fürsorgeangedeihen zu lassen, zwang man sie, sich zu Hungerlöhnenals Arbeitskräfte zu verdingen. "Kinder hatte man zumArbeiten, nicht zum Vergnügen", hieß es. Bis in die1920er Jahre boten Gemeindebehörden sie öffentlich feil,"für Null bis 90 Franken", erinnert sich ein ehemaligerVerdingbub. "Wir wurden abgetastet wie auf dem Viehmarkt".Heute leben in der Schweiz (noch) Tausende, die als Verdingkinder vonder Gesellschaft zum Teil zeitlebens verstoßen, ausgebeutet underniedrigt wurden. Viele verlangen heute von der Regierung eineoffizielle Entschuldigung und finanzielle Wiedergutmachung, da dieBehörden die Täter waren.
Fernsehfilm:
"Verkaufte Kinder. Das Schicksal der Verdingkinder in derSchweiz"
Dokumentarfilm, SF/DRS, 35", Erstsendung 29.12.2003
Peter Neumann (3sat, 9.4.2004)
Literatur:
Lotty Wohlwend/Arthur Honegger: Gestohlene Seelen. Verdingkinder in der Schweiz, Verlag Huber, Frauenfeld (CH), Stuttgart, Wien, Oktober2004, ca. 200 S., ISBN 3-7193-1365-4.
(Das neue Buch "Diagnose: moralisch defekt" enthüllt darüber hinaus, dass bis 1980 in der Schweiz jede/r zwangssterilisiert werden konnte, die/der "moralisch nicht in Ordnung" war.)
(7.201 Anschläge, 111 Zeilen, Oktober 2004)