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Kein nachhaltiger Kurswechsel in Sicht

Bericht zum Aufruf: Wiederaufbau und Rehabilitation (s. Anhang)


Während einer Fachtagung der tourismuskritischen Organisation EQUATIONS im südindischen Bangalore gaben Bestandsaufnahmen von Fachleuten und Augenzeugenberichte einen Einblick in die Situation in den südindischen Bundesstaaten Tamil Nadu und Kerala, auf den Andamanen und Nikobaren, auf Sri Lanka sowie in Thailand und im indonesischen Aceh. Das Erdbeben und die Flutwellen vom 26. Dezember 2004 richteten um den Indischen Ozean Schäden unterschiedlichen Ausmaßes an. So zeigen Studien aus Südindien, dass da, wo Mangrovenwälder und andere natürliche Schutzbarrieren im Küstenbereich relativ intakt waren und die gesetzlich vorgeschriebene Küstenschutzzone (Coastal Regulation Zone – CRZ) eingehalten wurde, kaum Menschen oder Bauten zu Schaden kamen. Je nach Land und betroffenem Gebiet sind auch die Hilfsmaßnahmen, sei es durch den Staat und/oder private Hilfsorganisationen, völlig unterschiedlich angelaufen. Deshalb erheben die Bestandsaufnahmen, die im Juli 2005 in Bangalore zusammengetragen wurden, in keiner Weise Anspruch auf ein umfassendes Bild der Situation der Menschen in den betroffenen touristischen Gebieten. Sie können aber – wenige Wochen vor der Hochsaison – die Bilder der oft auf Tourismusinteressen ausgerichteten Berichterstattung in den westlichen Medien ergänzen.

Verantwortlichkeit von Regierungen und Behörden zur Koordination der Hilfe

In Thailand und Südindien sind offenbar die Aufräumarbeiten vielerorts beendet und der Wiederaufbau wird von qualifizierten und engagierten Leuten aus Behörden und Hilfsorganisationen vorangetrieben. In nicht-touristischen Orten entlang der Küsten jedoch und in Sri Lanka sind die Trümmer, welche die Flutwellen hinterlassen haben, noch keineswegs beseitigt. Auf dem Archipel der Andamanen und Nikobaren sind teilweise noch nicht einmal die Schäden erfasst. Dabei steht in erster Linie das Versagen der Regierungen und lokalen Behörden zur Koordination der Hilfe am Pranger.

Kritisiert wird aber auch das Vorgehen von gewissen Hilfswerken, die sich im Trubel der Solidaritätsbekundungen nicht scheuten, "Care-Pakete" mit wollenen Winterkleidern oder gar Hundefutter nach Sri Lanka zu schicken; die mit ad-hoc gesammelten Geldern einfach möglichst bald Bilder fertig erstellter Behausungen an die Spendergemeinschaft senden wollten, ohne sich um Infrastrukturen wie Toiletten, Abwasser etc. zu kümmern, und die oft mehr oder weniger wissentlich auch ethnisch-religiöse Spannungen schürten, um die betroffenen Menschen um sich zu scharen.

In Thailand und Südindien haben sich Menschen in einigen Orten völlig lethargisch in Notunterkünften etabliert, weil sie dort von Hilfsorganisationen rund um die Uhr üppig mit Essen, Motorrädern und anderen Konsumgütern versorgt werden und wenig motiviert sind, sich nach dem Trauma des Tsunami eine neue Existenz aufzubauen. In Sri Lanka hingegen zwingen vielerorts die Lethargie der Behörden und die neu aufgeflammten politischen Auseinandersetzungen die Tsunami-Opfer dazu, sich in den Notunterkünften, den zerfetzten Zelten oder den fürs Monsunklima völlig untauglichen Wellblechbehausungen dauerhafter einzurichten, eine Küche vor der Hütte einzurichten und sogar einen Kräutergarten mit dem Nötigsten zur Selbstversorgung anzulegen.

Gravierender Trinkwassermangel auf den Andamanen und Nikobaren

Auf den Andamanen und Nikobaren, wo sich die gesamte Struktur des Archipels durch das Erdbeben tektonisch erheblich verschoben hat, musste laut Vermutungen der Experten praktisch jeder und jede BewohnerIn Schäden in Kauf nehmen. Viele Holzhäuser aus der britischen Kolonialzeit überstanden das Erdbeben, während die herabstürzenden Trümmer der neuen Betonbauten Menschen unter sich begruben. Dass sich die meisten UreinwohnerInnen vor der Katastrophe retten konnten, ist nach Ansicht der Fachleute keineswegs auf einen "Ur-Instinkt" zurückzuführen, wie in westlichen Medien romantisierend dargestellt, sondern auf die Tatsache, dass die Indigenen kaum vom Fischfang und deshalb auch nicht direkt am Strand leben. Außerdem haben sie ein angestammtes Wissen über Erdbeben und Tsunamis, da die Erde auf dem Archipel durchschnittlich 150 Mal im Jahr bebt und Flutwellen auch früher schon vorkamen. Dramatisch zugespitzt hat sich auf den Andamanen und Nikobaren die Trinkwassernot. Die Ursache der mangelnden Versorgung liegt allerdings bei der über die letzten Jahrzehnte aktiv betriebenen Zuwanderungspolitik von Händlern und Holzfällern aus Indien. Die Appelle aus den Andamanen und Nikobaren richten sich deshalb ausschließlich an die indische Zentralregierung und die regionalen Behörden. Wie opportun auswärtige, internationale Hilfe wäre, wird kontrovers diskutiert; insgesamt fürchtet man dadurch mehr Schäden für die fragilen Strukturen der letzten überlebenden UreinwohnerInnen. Einig sind sich die Fachleute, dass das Ökosystem des Archipels nun Ruhe braucht, um sich von den Erschütterungen des Tsunami zu erholen. Bis zu sechs Meter hat sich der Norden über die bisherige Hochwasserlinie hinaus angehoben und die Korallenriffe sind der Ausbleichung durch die Sonne preisgegeben, während auf den Nikobaren im Süden ganze Inseln unter den Wasserspiegel abgesunken sind. Ein unerwartetes Ergebnis der Katastrophe ist, dass die Fischer so viele "Prawns" wie noch nie aus den ausgeschwemmten Reisfeldern fischen.

Bedroht wird die natürliche Wiederherstellung der Ökosysteme vor allem aber durch die neuen "Entwicklungs"-Vorhaben der indischen Regierung: Sie hat mit Thailand, von wo aus der Archipel in kürzerer Flugzeit als von  Indien aus erreichbar ist, einen Plan zur touristischen Erschließung des Inselreiches beschlossen. Und der ist offenbar auch mit dem Tsunami nicht vom Tisch, im Gegenteil, vgl. S. 7, "Phuket-Plan".

Marketingoffensive statt klarer ökologischer und sozialer Standards

Die Regierungen von Indien, Thailand und Sri Lanka haben einhellig und wiederholt bekräftigt, dass sie den Tourismus in den Tsunami-Gebieten so schnell wie möglich wieder aufbauen wollen. Sie folgen darin der Welttourismusorganisation (WTO), die Ende Januar 2005 im "PhuketAction Plan" einmal mehr Tourismus als Entwicklungsperspektive für die Schaffung von Arbeit und Einkommen und damit zur Überwindung der Armut pries. Einmal mehr ohne dabei verbindliche Rahmenbedingungen festzulegen, die Regierungen und die Tourismuswirtschaft einzuhalten hätten. Rahmenbedingungen notabene, welche die WTO selbst in zahlreichen Programmen und Richtlinien, etwa dem "Globalen Ethikkodex für Tourismus" oder dem "ST-EP-Programm" zur Bekämpfung der Armut im Tourismus, festgehaltenhat. So entfaltete die WTO im Rahmen des "Phuket Action Plans" in erster Linie eine große Marketingoffensive, um den Tourismus in den vom Tsunami betroffenen Ländern so schnell wie möglich wieder anzukurbeln. Dies im Einklang mit VertreterInnen aus der Privatwirtschaft und den Regierungen der betroffenen Länder, die ihrerseits bei jeder Gelegenheit betonen, dass der Wiederaufbau des Tourismus nach klaren ökologischen Richtlinien zu erfolgen habe. Klare Vorgaben zur Neuausrichtung des Tourismus auf eine umweltverträgliche und sozialverantwortliche Entwicklung sind aber bislang nicht konkret auszumachen. Derweil reagieren, wie die Bestandsaufnahmen der Bangalore-Tagung zeigten, betroffene EinwohnerInnen bitter auf die Tatsache, dass ihre Regierungen mehr Geld für die Tourismuswerbung auszugeben scheinen als für ihre Rehabilitation.

Umstrittene Küstenschutzzonen

Die betroffenen Menschen stehen oftmals vor großen, gar unlösbaren Problemen bei der Einrichtung bzw. Einhaltung von Schutzzonen im Küstenbereich, die in Sri Lanka oder Indien teilweise zwar seit Jahren gesetzlich verankert waren, aber nicht respektiert wurden: 100 Meter im Süden und Westen von Sri Lanka, 200 Meter von der Flutlinie entfernt im Osten und Norden der Insel, bis zu 500 Meter von der Hochwasserlinie in Südindien. Hier liegt das wichtigste Terrain des Tourismus – Meersicht für die Hotels, Erwerbsplatz für Strandläufer, SouvenirverkäuferInnen und Inhaber von Strandbuden, nicht zu reden von den Fischern, die oft seit Jahren mit der Tourismusindustrie um einen gerechten Zugang zum Meer im Clinch lagen. Nun hat der Tsunami vielerorts den umstrittenen Strand weggeschwemmt und die Debatten und Konflikte um die Nutzung dieses meist nicht durch Landrechtstitel festgelegten Küstenbereiches neu geschürt. In Thailand, Indien und Sri Lanka warten derzeit unzählige Menschen auf die Entscheide von Politikverantwortlichen oder Gerichten, ob und wie sie künftig den Strandbereich nutzen können. In Sri Lanka werden dadurch auch Auszahlungen der Hilfsgelder an Betroffene verschleppt und auf die lange Bank geschoben. "Tsunami cleared the way for development”, meinten viele Fachleute sarkastisch. Die erklärten Absichten der Regierungen, den Tourismus so schnell wie möglich wieder anzukurbeln, lassen in der Tat die Befürchtung zu, dass sich im rechtlich ungeklärten Strandbereich schnell Investoren und Spekulanten breitmachen, auf Kosten der angestammten Erwerbstätigen aus der Fischerei oder etwa dem Kokosnuss-Anbau.

Soziale Verantwortung im Tourismus?

Ungewiss bleibt damit auch das Schicksal der zahllosen Erwerbstätigen aus dem informellen Sektor, die ihre Einnahmequellen verloren, sei es, weil das Hotel oder Restaurant zerstört wurde, sei es aufgrund des Einbruches der Touristenankünfte. Über eine Sozialversicherung, die helfen könnte, krisenbedingte "Durststrecken" zu überwinden, verfügen die allermeisten Angestellten im Tourismus nicht. Und zuständig für die Arbeitskräfte, die offenbar nur dann geschätzt werden, wenn sie zum Wohlgefühl der UrlauberInnen beitragen, fühlt sich niemand so richtig. Noch nicht einmal die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat bislang eine Abklärung ihrer Lage vorgelegt. Die Tourismusbranche hat sich ihrerseits – das wird bei jeder Krise deutlich – noch kaum damit auseinandergesetzt, was "Corporate Social Responsibility" bedeutet, gesellschaftliche Verantwortung, verlässliche, langfristige Partnerschaften mit den Menschen in den Zielgebieten. Internationale Hotel- und Reisekonzerne liessen die Tsunami-Gebiete zum Teil einfach fallen. Andere bemühen sich redlich, auch über die finanziellen Schäden hinaus, die ihnen durch den Tsunami entstanden sind, ihre angestammten Partner im Angebot zu halten und zu bewerben. Das alles kostet und lässt sich aus heute üblichen Reisepreisen wohl nur schwer herauspressen. Einige Tourismusunternehmen engagierten sich im Sog der Solidaritätswelle in Nothilfe- und Wiederaufbaumaßnahmen etwa von Fischerdörfern in Thailand oder Sri Lanka. Dem Image der Unternehmen mag dies allemal zuträglich sein. Was dabei Angestellten und Partnern aus Kleinbetrieben und dem informellen Sektor zugute kommt, bleibt vorerst offen.

Jetzt auf das "Frühwarnsystem" hören

Der Tsunami vom 26. Dezember 2004 mit seinen immensen Zerstörungen zeigte wohl noch eindrücklicher als alle früheren "Tourismuskrisen", wie exponiert und fragil der bestehende Tourismus ist. Die möglichst schnelle Rückkehr zur Tagesordnung, für die mit den Marketing-Offensiven plädiert wird, ist keine Antwort auf das Schicksal der zahllosen Betroffenen, die im Tourismus ein dauerhaftes Auskommen suchen und eine menschenwürdige Existenz aufbauen wollen. Völlig ungewiss bleibt auch, wie die Zukunftsversprechen der Tourismusindustrie eingelöst werden, so lange diese nicht durch klare gesetzliche Vorgaben und Richtlinien den Schutz der Natur und die Würde der Menschen gewährleisten. In der Folge der massiven Tsunami-Schäden kann sich derzeit jeder Umweltschützer damit brüsten, Mangroven – als Schutzschild" für den Strandbereich zu pflanzen, obwohl die Bedingungen wie Brackwasser längst nicht überall gegeben sind. IT-Firmen können sich eine goldene Nase mit der Erfindung von hochtechnisierten Tsunami-Frühwarnsystemen verdienen. Weiterhin kein Gehör geschenkt wird den kritischen Gruppierungen, die seit vielen Jahren auf die fatalen Fehlentwicklungen des Tourismus und anderer moderner Industriezweige wie der Garnelenzucht in den Tsunami-Gebieten aufmerksam gemacht und damit die Funktion eines echten "Frühwarnsystems" eingenommen haben. Das traditionelle Wissen um ökologische Zusammenhänge, also die schonende Nutzung der Naturressourcen und angepasste, nachhaltige Lebensweisen, muss, so der Tenor der Tagung in Bangalore, beim Wiederaufbau umfassend berücksichtigt werden.

(12.412 Anschläge, 166 Zeilen, September 2005)