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Heilige Berge

Wenig Aufmerksamkeit wird der spirituellen Bedeutung der Berge gewidmet.


Der Kultur von Millionen Gebirgsbewohnern wird somit die gebührende Beachtung verwehrt. Der folgende Beitrag möchte diesen Aspekt durch einige Beispiele beleuchten.

Bergsteiger betrachten die Alpen, den Himalaya oder die Anden als Giganten aus Fels und Eis, auf denen sie an ihre Grenzen stoßen können. Bergwanderer erfreuen sich einfach am Anblick schneebedeckter Gipfel und empfinden sie als Balsam für ihre gestresste Seele.

Die Bevölkerung in Asien und Lateinamerika, die am Fuße der großen Gebirge lebt und den Naturgewalten ausgesetzt ist, hat jedoch eine ganz andere Beziehung zum Berg oder zu der Landschaft an seinem Fuß. Für sie sind Berge in erster Linie Symbole spiritueller Kraft, Wohnstätten der Götter und wichtige Wallfahrtsziele. Soll es der Menschheit gut gehen, müssen die Gottheiten bei Laune gehalten werden. Die Entweihung oder Verschmutzung der Berge macht sie unglücklich oder gar ärgerlich. Der Umgang mit den Berggöttern oder einer vergöttlichten Landschaft wird allerdings je nach Region und Religion unterschiedlich gehandhabt. Auf die Höhe oder Schönheit des Gipfels kommt es dabei weniger an.

Beseelt ist die ganze Natur, jeder Baum, jeder Stein, jedes Gewässer, und sie kann bestimmte Mächte entwickeln. Schamanen können mit diesen Mächten in Verbindung treten. Schon so mancher Bergtourist wurde in den Anden oder im Himalaya Zeuge verblüffender Rituale und Zeremonien. Entscheidend ist zu verstehen, dass diese Religionsform den Bedürfnissen der Bergbauern und Bergbäuerinnen entspricht.

In den meisten Fällen wird ein Berg entweiht, wenn man hinaufklettert und seinen Gipfel betritt. Im Himalaya kann es nach Ansicht der Gläubigen zu "rituellen Verschmutzungen" kommen, wenn Touristen am Berg Tiere töten oder dort anderweitig Blut vergießen, wenn Frauen, besonders menstruierende, auf den Berg gehen, oder wenn man auf dem Berg sexuellen Kontakt hat. Auf Bali dürfen Frauen, die ihre Periode haben, keine (Berg)Tempel betreten.

Die amerikanische Ethnologin Sherry Ortner gibt an, zu einer Entweihung könne auch gehören, auf dem Berg menschliche Exkremente zu hinterlassen, Abfall zu verbrennen oder schlechte Gerüche zu verbreiten. "Wenn die Götter unglücklich sind, kann dies alle möglichen schlimmen Dinge zur Folge haben", so Ortner, "Krankheit, schlechte Ernte, Unglück. Und was die Bergsteigerexpeditionen angeht, so sind Unfälle und Tod die Hauptgefahren. Von Anfang an rieten die Mönche davon ab, auf die Gipfel zu steigen". Allein die Zahl tödlich verunglückter Träger beträgt mehrere hundert, von Bergsteigern ganz zu schweigen.

Ortner lernte aber auch die pragmatischen Seiten der Bergvölker kennen, für die der Tourismus häufig die einzige Einnahmequelle darstellt: "Wenn man einerseits religiösen Schutz erlangt und für sich sicherstellt, indem man eine Kränkung und Verärgerung der Götter vermeidet, dann geht es andererseits darum, mit Opfergaben aktiv ihre Unterstützung und ihr Wohlwollen zu suchen". Deshalb weiß jeder Bergsteiger, der an einer Himalaya-Expedition teilnimmt, von Opferfeuern und Gebetszeremonien der örtlichen Begleitmannschaft zu berichten.

Der österreichische Tibetologe Christian Schicklgruber beobachtete im Himalaya-Königreich Bhutan einen weiteren Aspekt: "Ein harmonisches Verhältnis zwischen dem Berg und den Menschen setzt ein harmonisches Verhältnis unter den Menschen voraus. Die soziale Harmonie ist das oberste Ziel aller Regeln, über die der Berg wacht. Wird eine der sozialen Regeln gebrochen, entzieht er seinen Schutz. Dadurch öffnet sich ein Tor für all die übelwollenden Kräfte, die hinter jeder Ecke lauern, um den Menschen zu schaden. So kann sich die Verfehlung eines einzelnen Bewohners verheerend auf die ganze Region auswirken - das Vieh erkrankt, Dürre trocknet die Erde aus oder Hagel verwüstet die Felder. Daraus ergibt sich ein ständiger Druck der Gesellschaft auf das Individuum, sein Handeln innerhalb der sozialen Spielregeln zu gestalten".

Schlimmes kann auch geschehen, wenn der Wohnort des Gottes gestört wird. Schicklgruber weiter: "Eine Bergexpedition auf den Gipfel des Jichu Drakye im Jahr 1983 erzürnte den Gott derart, dass die Region daraufhin von Hagel heimgesucht wurde. So begab sich eine Gesandtschaft der betroffenen Dörfer mit der Bitte zum König, solche Expeditionen nicht mehr zuzulassen". Der König entsprach dem Gesuch. Bhutan ist bis heute das einzige Land, das mit Rücksicht auf die Bevölkerung keinerlei Bergexpeditionen zulässt.

Allerdings zog die Landesregierung im benachbarten indischen Bundesstaat Sikkim vor zwei Jahren ebenfalls die Notbremse. Nach heftigen Beschwerden der Bürgerinitiative "Concerned Citizens of Sikkim" wurde die Besteigung des heiligen Khanchendzonga (Kanchenjunga) und sieben weiterer Gipfel verboten. Der Streit hatte sich an einer österreichischen Expedition entzündet, die den 8.598 m hohen Grenzberg (zu Nepal) "bezwingen" wollte. Die "Besorgten Bürger von Sikkim" glaubten den Beteuerungen der Bergsteiger nicht, zehn Meter unterhalb des Gipfels umzukehren. Sie warfen der Landesregierung den Ausverkauf ihrer Kultur vor und verglichen in einem Brief empört, "auf dem Khanchendzonga herumzutrampeln ist wie Abfall auf einer Statue von Jesus zurückzulassen".

Jesus auf dem Kailash?

Als im Sommer des vergangenen Jahres bekannt wurde, spanische Bergsteiger wollten den heiligen Kailash in Tibet besteigen, erhob sich ein internationaler Sturm der Entrüstung. Der Sechstausender führt die Liste der heiligsten Berge auf dem Globus an und wird von über einer Milliarde Menschen, die vier verschiedenen Religionen angehören, verehrt. Anhänger des tibetischen Buddhismus, die den pyramidenförmigen Gipfel auch "Schneejuwel" nennen, sehen in ihm (grob vereinfacht) das mythische Zentrum des Universums. Hindus glauben, er sei der Thron der berühmten Gottheiten Shiva und Parvati. Beide Religionen weisen ihm tantrische Kräfte zu. Für indische Jain-Gläubige ist er der Berg Ashtapada, auf dem ihr Religionsgründer die Loslösung vom Irdischen erfuhr. Und die Gläubigen der Bön-Religion Tibets verehren das Naturheiligtum als die spirituelle Seele ihres alten Landes Shang Shung.

Nicht nur der Berg ist heilig, sondern die gesamte Region einschließlich tiefblauer Seen. Vier große Flüsse Asiens entspringen am Kailash: Indus, Tsangpo/Brahmaputra, Sutlej und Karnali, Lebensspender für Millionen von Menschen.  "Seen und Berge sind die Kronjuwelen eines verzauberten Landes, wo das Licht von absoluter Reinheit ist und die Farben so intensiv wie nirgendwo sonst", schwärmen die Pilger. Für sie hat die - sehr mühselige - Reise ins gelobte Land den gleichen Stellenwert wie eine muslimische Pilgerfahrt nach Mekka oder eine katholische Pilgerreise zum Papst. (Kein Muslim oder Christ käme dabei auf die Idee, die heilige Kaaba im Innenhof der Großen Moschee oder den Petersdom zu besteigen.)

Höhepunkt für Pilger und die zahlreichen Touristen aus aller Welt ist die 53 km lange Umrundung (tibetisch: Kora, Sanskrit: Parikrama) des Kailash, die bis auf eine Höhe von 5600 m führt. Der ausgetretene Pilgerpfad ist gesäumt von Aufenthaltsorten zahlreicher Gottheiten und Meditationsstätten großer Meister. Auch Touristen können sich der Magie des Berges nicht entziehen.

Trotz eines Ehrenkodexes unter Bergsteigern, den unbestiegenen Kailash in Ruhe zu lassen, juckt es einigen offensichtlich doch in den Waden. 1985 beantragte bereits der Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner - vergeblich - eine Genehmigung bei den chinesischen Behörden. Expeditionsleiter Jesús Martinez Novaz aus Spanien versuchte es 2001 mit einem neuen Trick: Er deklarierte seine geplante Kailash-Besteigung als "politische Demonstration gegen Umweltzerstörung und für größeres globales Bewusstsein". (Mit ähnlichen Behauptungen waren zuvor schon Expeditionen in Nepal aufgeflogen. Sie hatten sich als "naturschützende Müllsammler" bezeichnet, um bei der Beantragung einer Genehmigung für den Mt. Everest die Warteliste zu umgehen. )

Die weltweiten Proteste von Hindus, Buddhisten, der tibetischen Exilregierung in Indien und ungezählten Unterstützern (einschließlich berühmter Bergsteiger) führten zum Erfolg. Jesús gab seinen Plan auf. Wie sich erst später herausstellte, hatten ihm die chinesischen Behörden - entgegen seinen Behauptungen - kein Permit zugesagt. Auf die Gipfel-Trophäe musste er verzichten. Jesús kam nicht auf den Kailash.

Der Kailash wird entweiht

In diesem Jahr kommt es aber (fast) noch schlimmer. Dann wird nämlich ein heiliger Pfad, der in das Innere des Kailash-Massivs führt, von Pauschaltouristen entweiht. Dieser "innerste Pfad, der den am höchsten entwickelten menschlichen und göttlichen Wesen vorbehalten bleibt", so ein tibetischer Wissenschaftler aus München, gehört zu den absoluten Tabus in der geheiligten Bergwelt. Höchstens gläubige Pilger dürfen die Innere Kora nach 13maliger äußerer Umrundung des Kailash unternehmen. Doch das kümmert den kommerziellen Arm des Deutschen Alpenvereins (DAV), den DAV Summit Club, offensichtlich nicht. Er bietet in diesem Jahr eine "mystische Wallfahrt" auf der zweitägigen Inneren Kora an. Dabei nutzt er den Glauben in das derzeitige tibetische Kalenderjahr des Pferdes, in dem eine Äußere Kora des Pilgers soviel wert ist wie sonst 12 Umrundungen. Der Summit Club stellt seinen Teilnehmern kurzerhand die "Berechtigung" für das "Großerlebnis extremer Seltenheit" aus, weil man angeblich nach einer Umrundung "sofort für die geheimnisvolle, weithin unbekannte Innere Kora gerüstet" sei. Er bietet gleich mehrere Termine an und beruft sich auf 13 Umwandlungen, die "eigentlich absolviert" werden müssten. Tibeter bestreiten die 13fache Potenzierung. Sie kennen nur eine zwölffache (die zwei äußere Koras erfordern) und finden ohnehin, dass westliche Bergtouristen in dem inneren Heiligtum nichts zu suchen haben.

Das neue Shangri La

Etwas ganz anderes ließ sich die chinesische Regierung zu Beginn  dieses Jahres einfallen. Sie taufte den Landkreis Zhongdian in der Provinz Yunnan höchst offiziell in "Shangri-la" um. Shangri La wird heute mit "Paradies" gleichgesetzt und vermarktet, hat jedoch einen tief religiösen, buddhistischen Hintergrund. (Vgl. TW 16, "Von Shambhala zu Shangri-La" in "Der Tibet-Mythos".)

Die Volksrepublik China verkündete der Weltpresse bereits 1997, sie habe "Shangri-la", das verborgene mythische Königreich, gefunden, und zwar am Ostrand der tibetischen Hochebene. Diese Bergregion nördlich von Lijiang ist von tiefen Schluchten zerfurcht, nur schwer zugänglich und entspricht dem Klischee, das sich Touristen und Reiseindustrie von Shangri La machen. Tatsächlich jedoch ist "Shangri La" das - mehrfach verfilmte - Fantasieprodukt des englischen Schriftstellers James Hilton. Sein 1933 erstmals veröffentlichter Erfolgsroman heißt "Der verlorene Horizont - Ein utopisches Abenteuer irgendwo in Tibet". Darin beschreibt er einen Flugzeugabsturz in den Bergen West-Tibets, die wundersame Rettung der westlichen Passagiere und ihren Aufenthalt in einem versteckten "Jungbrunnen-Kloster". Hilton hatte offensichtlich zuvor durch vage Berichte von "Shambhala" gehört und erfolgreich seine Fantasie entfaltet.

"Shambhala" bedeutet für Anhänger des tibetischen Buddhismus ein spirituelles Paradies, das sich tief unter der Wüste Gobi oder Tibet oder anderswo in Zentralasien verbergen soll. Wahrscheinlicher ist, dass Shambhala (Sankskrit: "Quelle des Glücks") nur durch eine innere Reise erreicht werden kann. Sie geht einher mit einer körperlich anstrengenden Reise durch Wüsten und über hohe Berge, die zu einer seelischen Entwicklung führen soll, zu einer Befreiung und Erneuerung des Geistes.

Naturheiligtümer gibt es auf der ganzen Welt

Weder die Kommunisten in China noch die Christen im Westen und anderswo können die Glaubensvorstellungen zahlreicher Bergvölker verstehen. Dabei ist die ganze Welt voll von heiligen Bergen, sei es der Ayers Rock in Australien, der Gunung Agung auf Bali, der Adam's Peak auf Sri Lanka, der Fuji in Japan, der Berg Sinai oder der Emeishan in Sichuan (China),  um nur einige wenige zu nennen.

Selbst die Alpen sind reich an archaischen Sagen, Mythen, altertümlichen Traditionen und vorchristlichen Kultstätten, (die später von christlichen Heiligtümern überbaut wurden). Wir wissen nur noch kaum etwas davon. Dem Tiroler Volkskundler Hans Haid, der das bemerkenswerte Buch "Mythos und Kult in den Alpen" veröffentlichte, ist jedenfalls klar: "Seit den ältesten Zeiten brachten die Bergmenschen den höchsten Bergen, vor allem den vergletscherten Bergriesen, den allergrößten Respekt entgegen. Selbstverständlich waren diese unerreichbaren Höhen die Wohnstätten von Göttern, Göttinnen und einem Geheimnis". Doch damit steht er ziemlich allein da und wird nicht selten als "Spinner" verschrien.

Mehr Zuspruch erhält offensichtlich der erfolgreiche, wenngleich umstrittene Hotelier Günther Aloys aus Ischgl, der in dem Tiroler Ferienort eine heftige Party- und Eventkultur und hemmungslose Erschließung propagiert. "Berge sind mir heilig, weil sie Sitz der Götter sind", verriet er der Fachzeitschrift "Berge". "Der Berg mit seiner gespeicherten Energie, den Felsen, Kanten und Rissen hat viel mehr Charisma, Faszination als das Flachland. Er braucht aber eine neue Anziehungskraft, wenn er touristisch weiterhin genützt werden will. Es muss ein neuer Mythos und Kult geschaffen werden, den die Jugend, die Opinionleader und die Early Adapters für sich belegen können"...

Die ganz ausgezeichnete Ausgabe von "Berge" (Nr. 1/2002) mit dem Schwerpunkt "Internationales Jahr der Berge" räumt Naturheiligtümern breiten Raum in Text und Bild ein. Beschrieben werden neben dem Kailash in Tibet auch der Illimani in den Anden, der Uluru (Ayers Rock) in Australien, der Kilimandscharo in Ostfrika, der Devil`s Tower in Wyoming (USA), der Olymp in Griechenland und der meist bestiegene und vermarktete heilige Berg der Welt, der Fuji in Japan.

(14.145 Anschläge, 198 Zeilen, Juli 2002)