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Entwurzelt -Die "gestohlenen Generationen" Australiens


Über Jahrzehnte hinweg wurden in Australien rund 100.000 Aborigine-Kinder von ihren Familien getrennt und in Heimen zu billigen Arbeitskräften erzogen. Bis heute werden den oft traumatisierten Kindern und ihren Familien Entschädigungen vorenthalten. Rund eine halbe Million Ureinwohner gibt es noch in Australien. Statistiken über ihre Gesundheitssituation, Kindersterblichkeit, Arbeitslosigkeit und Lebenserwartung gleichen denen ärmster Entwicklungsländer.

Lange Zeit wurden ihnen grundlegende Bürgerrechte vorenthalten. Mittlerweile haben einige mit Hilfe der Gerichte ihren Anspruch auf Landbesitz durchgesetzt. Wer jedoch als Kind von seinen Eltern getrennt oder wessen Familie von ihrem Land vertrieben wurde, hat keinen Anspruch auf Landrechte.

Bis in die siebziger Jahre verfolgte die australische Regierung eine rigide Anpassungspolitik, deren Ziel die Auslöschung der Aborigine-Kultur war. Die Bemühungen der Politiker konzentrierten sich vor allem auf die sogenannten "Mischlingskinder". Sie sollten dem Einfluss der Ureinwohner entzogen und fernab von ihren Familien zu "richtigen" Australiern erzogen werden. Schätzungen zufolge wurden zwischen 1910 und 1971 bis zu hunderttausend Kinder gewaltsam ihren Familien entrissen und in Umerziehungsheime und Waisenhäuser gebracht, die oft tausende Kilometer von ihren Familien entfernt lagen. Sogenannte "Schutzbeamte", die vom Schuhkauf bis zu Heirats- und Umzugsgenehmigungen alle Angelegenheiten der Aborigines regelten, mussten zu diesem Zweck  Namenslisten von "Mischlingskindern" erstellen. Oft reichte eine etwas hellere Hautfarbe der Kinder, um sie als "Mischlinge" abzustempeln. Polizisten holten Kinder meistens mit Gewalt aus den Familien. Viele Mütter willigten aber auch in die vermeintlich vorübergehende Trennung ein, weil ihre Kinder angeblich eine gute Schuldbildung erhalten sollten. Sie waren häufig Analphabeten und "unterschrieben" die Formulare, die ihnen die "Schutzbeamten" gaben, per Daumenabdruck. Vor Gericht dienten diese Formulare später als Beweis, dass die Mütter freiwillig auf das Sorgerecht für ihre Kinder verzichtet hätten.

Viele Kinder sahen ihre Mütter und Geschwister nie oder erst nach Jahrzehnten wieder. Durch die Unterbringung in weit entfernten Heimen, amtlich angeordnete Namensänderungen und Bestrafung bei Gebrauch der Muttersprache sollte erreicht werden, dass die Kinder ihre Familie und Herkunft vergaßen. Den Müttern wurde der Kontakt zu ihren Kindern erschwert oder verboten. Viele Kinder dieser "gestohlenen Generationen" wuchsen in dem Glauben auf, aus ausländischen oder anglo-australischen Familien zu stammen. Nur wenigen gelang die Flucht und noch weniger fanden zu ihren Eltern zurück. Zu ihnen gehören drei Mädchen aus dem westaustralischen Jigalong, deren Schicksal und spektakuläre Flucht aus dem berüchtigten Lager "Moore River" unter dem Titel "Long Walk Home" zur Zeit in den Kinos läuft .

In der Regel wurden die Kinder nach ihrer Erziehung in nur unzureichend ausgestatteten Heimen und Lagern als billige Arbeitskräfte an "weiße" Familien vermittelt. Viele, die sich auf die Suche nach ihren Angehörigen machten, stießen auf unüberwindbare Hindernisse. Namensänderungen, mangelnde Kooperation der Behörden und unzugängliche Dokumente machten es ihnen bis vor kurzem unmöglich, ihre wahre Identität herauszufinden. Traumatisiert und entwurzelt arbeiteten die Heranwachsenden vor allem in der Landwirtschaft und in privaten Haushalten. Ihr ohnehin niedriger Lohn wurde von den Behörden verwaltet. In mehreren Bundesstaaten ermöglichten die Anpassungsgesetze es den Arbeitgebern, die "Mischlinge" wieder zurückzuschicken, wenn sie nicht den Erwartungen entsprachen oder die Mädchen schwanger wurden.

Oft wiederholten sich die Tragödien in der nächsten Generation: Den Müttern wurden ihre unehelichen Kinder weggenommen und wiederum in weit entfernten Heimen großgezogen oder zur Adoption freigegeben. Die Auswirkungen sind bis heute in nahezu jeder Aborigine-Familie zu spüren. Eine Frau, die 1971 im Bundesstaat New South Wales zusammen mit ihren zwölf Geschwistern von ihrer Familie getrennt wurde, berichtete später über ihre Adoption: "Wir wurden in unseren weißen Kleidern in Reihen aufgestellt, und sie kamen vorbei und suchten dich aus, als seiest du zum Verkauf aufgestellt."

Pseudo-wissenschaftliche "Reinhaltung einer Rasse"

Grundlage für die menschenverachtende Rassenpolitik waren pseudo-wissenschaftliche Experimente in den dreißiger Jahren und Theorien zur "Reinhaltung einer Rasse" sowie Veröffentlichungen des für Westaustralien zuständigen leitenden "Schutzbeamten" für Aborigines, A. O. Neville. In seinen Büchern versuchte er mit Hilfe von Fotos zu belegen, dass nachfolgende Generationen immer seltener äußerliche Merkmale der Ureinwohner aufweisen, wenn sie daran gehindert werden, Kinder mit Aborigines oder "Mischlingen" zu zeugen. Nevilles Vorstellungen setzten sich auf einer Konferenz durch, an der 1937 Behördenvertreter teilnahmen, die für die Angelegenheiten der Aborigines zuständig waren. Neville stellte die rhetorische Frage: "Werden wir im australischen Bund eine Bevölkerung von einer Million Schwarzen haben, oder werden wir sie in die weiße Gesellschaft hineinmischen und schließlich vergessen, dass es irgendwelche Aborigines in Australien gab?" Die auf der Konferenz beschlossenen Bestimmungen legten den Grundstein für die spätere Anpassungspolitik.

Angesichts der unbeschreiblichen Not der Ureinwohner arbeiteten die Kirchen oft Hand in Hand mit den staatlichen Stellen und beteiligten sich an der Umsiedlung und Umerziehung der Kinder. Heute gehören australische Kirchen zu den Vorreitern von Menschenrechtsgruppen und Vereinigungen, die Entschädigungen für die Opfer verlangen.

Erst Mitte der neunziger Jahre wurde die Menschenrechtskommission von der Regierung beauftragt, das Ausmaß und die Folgen der Anpassungspolitik zu untersuchen. Die Kommission fand Hinweise darauf, dass Behörden es meist unterließen, gegen Misshandlungen von Kindern in Heimen, bei Adoptiveltern oder Arbeitgebern einzuschreiten. In einem 1997 veröffentlichten Bericht stellt die Kommission fest, dass die Trennung der Aborigine-Kinder von ihren Familien mit dem Ziel, ihre ethnische Herkunft auszulöschen, völkerrechtswidrig im Sinne der Völkermordkonvention von 1951 war und gegen zahlreiche Menschenrechtsnormen verstoßen hat. Dokumente belegen, dass sich zumindest einige Beamte des Völkerrechtsbruchs bewusst waren.

Auch amnesty international forderte die Regierung von John Howard auf, zu den im Kommissionsbericht dokumentierten Menschenrechtsverletzungen Stellung zu nehmen und noch lebenden Opfern Entschädigungen zu zahlen. Bis auf einige Maßnahmen zur Erleichterung von Familienzusammenführungen ist bis heute jedoch wenig geschehen. Statt dessen wurde das Budget der Menschenrechtskommission gekürzt und dem Parlament zum dritten Mal ein Gesetzentwurf zur Abstimmung vorgelegt, der das Mandat und die Befugnisse der Kommission einschränken soll.

Der sehr zu empfehlende Film "Long Walk Home" basiert auf dem Roman "Follow the Rabbit Proof Fence" von Doris Pilkington Garimara (Rowohlt Verlag, Reinbek 2003).

(7.158 Anschläge, 83 Zeilen, Juni 2003. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus dem "ai-Journal" Juni 2003)