Nach dem Scheitern des G6-Ministertreffens der Welthandelsorganisation (WTO) Ende Juli 2006 in Genf sind die Verhandlungen ausgesetzt worden. Hauptstreitpunkte bleiben die handelsverzerrenden Agrarsubventionen und die Zölle auf Industriegüter. Der Dienstleistungsbereich spielte nur indirekt eine Rolle. Denn während die USA im Agrarbereich keine Flexibilität zeigen, lassen sich viele Entwicklungsländer-Regierungen bei Dienstleistungen auf immer mehr Zugeständnisse ein – Anlass für TourismWatch, Vidya Rangan von der indischen Nichtregierungsorganisation Equations (Bangalore) zu den Liberalisierungen im Tourismus und den aktuellen Strategien aus zivilgesellschaftlicher Sicht zu befragen.
Wie liberalisiert ist der Tourismus inzwischen, im Vergleich zu anderen Dienstleistungssektoren?
Vidya Rangan: „Der Tourismus ist weltweit einer der am stärksten liberalisierten Dienstleistungssektoren. Im Rahmen des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) haben sich bereits 125 der 149 WTO-Mitgliedsstaaten zu Marktöffnungen im Tourismus verpflichtet – mehr als in jedem anderen Bereich. Leider wird der Tourismus kaum diskutiert und ist selbst für Entwicklungsländer in den GATS-Verhandlungen kein strittiges Thema. Marktöffnungen im Tourismus gelten allgemein als „Win-Win”-Situation für Entwicklungsländer, denn der Tourismus bringt Deviseneinnahmen. Insbesondere die Staaten der karibischen Gemeinschaft (CARICOM), die Andenländer Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien sowie Venezuela und El Salvador machen sich für Liberalisierungen im Tourismus stark. Doch wie sich das GATS auf den staatlichen Regulierungsspielraum auswirkt, oder ob der liberalisierte Handel den Einheimischen noch nützt, bleibt unberücksichtigt.“
Die Liberalisierung von Bereichen der Grundversorgung wie Wasser, Gesundheit und Bildung unter dem GATS wird von Globalisierungskritikern und Nichtregierungsorganisationen als große Gefahr gesehen. Warum ist der Tourismus kaum ein Thema?
Vidya Rangan: „In der weltweiten Kampagne gegen das GATS wird den Bereichen Wasser, Gesundheit und Bildung viel Aufmerksamkeit geschenkt – und dies völlig zu recht. Der Kampf gegen die Privatisierung dieser Dienstleistungsbereiche und ihre Übernahme durch große Konzerne hat Vorrang, denn diese Bereiche sind für das menschliche Leben und Überleben von zentraler Bedeutung. Die Auswirkungen des Tourismus sind dagegen sehr viel komplexer und schwieriger zu durchschauen, denn der Tourismus hat viele Dimensionen und ist mit verschiedenen anderen Bereichen wie Wasser, Transport oder Kultur eng verflochten. Der Tourismus entwickelt sich oft erst allmählich und seine Auswirkungen lassen sich nicht sofort erkennen. Doch der Tourismuswirtschaft sind einige der schlimmsten Auswirkungen der Globalisierung zuzuschreiben. Es werden Menschen vertrieben, die Umwelt geschädigt, die Rechte von indigenen Bevölkerungsgruppen und lokalen Gemeinschaften untergraben und die wirtschaftliche Entwicklung verzerrt.
Wenn zum Beispiel in einem geschützten Waldgebiet eine touristische Anlage errichtet wird und deshalb die indigene Bevölkerung vertrieben wird und ihren Zugang zu Land, Wasser und Waldressourcen verliert, so ist dies genauso ein Fall von Privatisierung des Wassers und eine Verletzung von Menschenrechten wie in jedem anderen Sektor. Wenn der Tourismus nicht reguliert wird, kann das sehr leicht dazu führen, dass öffentliche Dienstleistungen, z.B. im Transportwesen, oder natürliche Ressourcen wie Wasser, privatisiert werden. Andererseits wirkt es sich auch auf den Tourismus aus, wenn andere Dienstleistungsbereiche privatisiert werden. Es gibt also enge Zusammenhänge, und die Herausforderung besteht darin, die Kampagne zum Tourismus mit der Kampagne zur öffentlichen Grundversorgung, aber auch anderen Sektoren wie der Landwirtschaft enger zu verzahnen.“
Welches sind die zentralen Forderungen, politischen Strategien und nächsten Schritte zum Tourismus aus zivilgesellschaftlicher Sicht?
Vidya Rangan: „Zur Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation im Dezember 2005 in Hongkong hat Equations zusammen mit Partnerorganisationen eine internationale Konsultation zu GATS und Tourismus organisiert. Es wurden Fallstudien zu den Auswirkungen der Liberalisierung des Tourismus aus verschiedenen Teilen der Welt vorgestellt. Darauf aufbauend und angesichts der aktuellen Entwicklungen werden derzeit verschiedene Strategien diskutiert. So muss weiterhin mehr Bewusstsein für die wirtschaftlichen, ökologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen des Tourismus geschaffen werden. Die Verflechtungen zwischen dem Tourismus und anderen Dienstleistungsbereichen müssen deutlich gemacht werden, um Kampagnen besser miteinander verzahnen zu können. Es muss genauer untersucht werden, welche Auswirkungen das GATS auf die nationale Politik und die Regulierungsmöglichkeiten hat, und die spezifischen Folgen für den Tourismus müssen aufgezeigt werden.
Der Tourismus ist ohnehin schon ein kaum regulierter Sektor. Um seine negativen Auswirkungen zu minimieren, sollte man ihn stärker steuern, statt zur Förderung des Handels Regulierungsmöglichkeiten abzuschaffen oder zu schwächen. Insbesondere in Entwicklungsländern muss Lobbyarbeit geleistet werden, um den nationalen Regierungen und Verhandlungsführern klar zu machen, dass der Tourismus in den WTO-Verhandlungen ein kritischer Bereich ist, und um den Regierungen nahe zu legen, die Folgen der Liberalisierung im Tourismus untersuchen zu lassen und relevante nationale, regionale und lokale Akteure zu konsultieren, wenn es darum geht, einen Standpunkt für die Verhandlungen zu formulieren. Schließlich ist auch wichtig, nicht nur die Welthandelsorganisation im Blick zu haben, sondern auch die regionalen und bilateralen Handelsabkommen, denn ein großer Teil der Marktöffnungen und Handelsförderung geschieht außerhalb der WTO. Das gilt auch für den Tourismus. Viele Länder liberalisieren auf bilateraler Ebene, wie zum Beispiel Indien und Singapur im Rahmen des umfassenden Wirtschaftsabkommens CECA (Comprehensive Economic Cooperation Agreement). Sie gehen dabei Verpflichtungen ein, die weit über das GATS hinausreichen.“
Vidya Rangan ist Mitarbeiterin der indischen Nichtregierungsorganisation Equations in Bangalore im Bereich Tourismus und Auswirkungen der Globalisierung.
(6.341 Anschläge, 83 Zeilen, September 2006)