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Die Vertreibung der Vertriebenen

Drei Fragen an die indische Menschenrechtsaktivistin Medha Patkar, Narmada Bachao Andolan und National Alliance of Peoples' Movements


Für den Bau des Sardar Sarovar Staudamms und der dazugehörigen Infrastruktur wurden seit Anfang der 1960er Jahre große Teile der indigenen Bevölkerung (Adivasis) entlang des Narmada-Flusses in den indischen Bundesstaaten Madhya Pradesh, Gujarat und Maharashtra vertrieben. Infolge des Widerstands und einer sehr ablehnenden unabhängigen Prüfung zog sich die Weltbank 1993 aus dem Projekt zurück. Die Menschen vor Ort kämpfen weiter für ihre Rechte und wehren sich nun auch gegen Vertreibung im Namen des Tourismus. Sie werden unterstützt von der "Narmada Bachao Andolan" (NBA), der "Bewegung zur Rettung der Narmada", angeführt von der Menschenrechtsaktivistin Medha Patkar (s. TW 41, Dezember 2005). Wir fragten Medha Patkar nach den Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit dem Tourismus an der Talsperre und nach den Wegen, die Menschen vor Ort zu unterstützen.

TW: Auf welche Weise werden die Menschenrechte der Adivasis am Sardar Sarovar-Staudamm im Zuge der Tourismusentwicklung verletzt?

Medha Patkar: Es sind sechs Dörfer rund um den Staudamm, deren Bewohner von ihrem landwirtschaftlich genutzten Grund und Boden vertrieben wurden, als man die Siedlung zum Bau der Talsperre errichtete. Da diese Menschen nicht als "vom Projekt Betroffene" angesehen wurden, hat man ihnen noch nicht einmal eine Entschädigung angeboten. Sie kämpften weiter mit uns und bekamen doch nur ein Entschädigungsangebot von 36.000 Rupien (ca. 600 Euro), welches die meisten von ihnen nicht annahmen. Stattdessen blieben sie auf dem ihnen verbliebenen Land, das nicht enteignet worden war. Sie sagten laut und deutlich, "Dieses Land gehört uns". Sie hatten weiter Zugang zu Teilen ihres Landes und konnten dort Landwirtschaft betreiben. Doch nun droht Ihnen im Namen des Tourismus erneut die Vertreibung.

Einige der jungen Männer wurden als Fremdenführer beschäftigt, doch dies waren alles befristete Jobs, die nur Lockmittel waren. Wie auch immer, ihr Land haben sie bis heute nicht aufgegeben, doch es ist ein ständiger Kampf. Es geht auch nicht nur um diese sechs Dörfer, es geht um insgesamt 16 Dörfer, von denen es heißt, dass dort 5-Sterne-Hotels entstehen sollen. Einige Hotels sind bereits gebaut worden. Die Gegend wird langsam aber sicher für den Tourismus erschlossen. Die Touristen kommen bislang meistens als Ausflügler und gehen wieder. Ein großer Teil der Planungen, die sofort hätten umgesetzt werden sollen, sind ins Stocken geraten. Es bestehen Bedenken, dass mit dem Staudammbau nicht fortgefahren werden darf, da es noch laufende Rechtsstreitigkeiten gibt. Deshalb geht es mit der Erschließung zwar nur langsam aber doch stetig voran.

TW: Was ist nötig, um die Menschenrechte der Dorfbevölkerung zu schützen, wodurch lassen sich ihre Anliegen unterstützen?

Medha Patkar: In Gujarat haben wir die Entwicklungen immer in Frage gestellt und die Regierung herausgefordert, doch es kommt keine Reaktion. Die meinen sie hätten für die betroffene Bevölkerung alles getan, was sie tun konnten, und damit hat es sich nun.

In Madhya Pradesh und Maharashtra fordern wir die Regierungen heraus und die müssen zumindest irgendwie reagieren. Die nationalen Behörden behandeln diese Tourismusaktivitäten nicht als Teil des Staudammprojekts. Das ist eine große Hürde bei der Anerkennung der nun vom Tourismus Betroffenen. Sie werden nicht als "Betroffene" behandelt, nicht einmal als "von der Siedlung Betroffene". Und als "vom Tourismus Betroffene" werden sie ebenfalls ignoriert. Der Tourismus gilt als Nebensache. Doch wir müssen den Tourismus im Zusammenhang mit diesem Staudamm oder irgendeinem anderen Projekt als Teil des jeweiligen Projektes ansehen und die Verantwortlichen dazu zwingen, zumindest einen entsprechenden Plan zu haben und die Menschen zu entschädigen. Die beste Lösung besteht darin, den Tourismus zu planen und den Betroffenen ein Vorrecht auf die Arbeitsplätze zu geben, die dadurch entstehen. Man kann den Tourismus nicht vollständig verhindern, denn er wird ja von staatlicher Seite geplant.

Ich denke die Definition des Projektes kann touristische Aktivitäten mit einschließen, wenn diese rund um den Projektstandort stattfinden. Darauf sollten wir bestehen und alles andere ergibt sich dann daraus. Es ist eine neue Gesetzgebung zu Landrechts- und Entschädigungsfragen* in Vorbereitung. Darin sollte festgelegt sein, dass solche Aktivitäten ein Teil des Projekts sind. Doch diese "Rehabilitation Policy" wollen wir eigentlich gar nicht. Wir fordern ein Gesetz zur Entwicklungsplanung ("Development Planning Act")**. An dem Entwurf arbeiten wir derzeit und darin wollen wir dies aufnehmen.

TW: Welche Rolle spielt die internationale Solidarität beim Schutz der Rechte der Menschen in Indien, die von Menschenrechtsverletzungen wie Vertreibung betroffen sind?

Medha Patkar: Am Narmada-Staudamm entsteht eines der 5-Sterne-Hotels mit malaysischer Finanzierung. Die Wasser-Vergnügungsparks entstehen ebenfalls mit ausländischer Finanzierung. Immer wenn die Investitionen aus dem Ausland kommen, muss die internationale Gemeinschaft das hinterfragen und die Investoren zwingen, auf die Menschen zu hören und sie bei Entscheidungen einzubeziehen. Und wenn es Widerstand gibt, dürfen sie nicht einfach weitermachen, sondern das Projekt sollte eingestellt werden. Die Weltbank oder irgendein anderer Finanzier müsste dazu verpflichtet werden, nicht nur die direkte Vertreibung der Bevölkerung in den Blick zu nehmen, sondern auch die Verdrängung durch den Tourismus. Die internationalen Solidaritätsbewegungen können hinterfragen, was die Weltbank, irgendein Hotelier oder irgendein anderes Unternehmen den Menschen antut. So funktionierte das auch im Falle des Narmada-Staudamms: Wir haben die Weltbank rausgeschmissen!

* Der Gesetzentwurf "National Rehabilitation and Resettlement Bill, 2007" wurde vom Unterhaus des indischen Parlaments (Lok Sabha) 2009 angenommen, vom Oberhaus (Rajya Sabha) jedoch abgelehnt. Es wird damit gerechnet, dass er überarbeitet und neu vorgelegt wird.

** Die National Alliance of Peoples' Movements (NAPM) und andere fordern die Inkraftsetzung einer umfassenden nationalen Gesetzgebung zur Entwicklungsplanung, die die gerechte Entschädigung der Betroffenen beinhaltet und in der die Prinzipien minimaler Vertreibung und dezentraler Entwicklungsplanung verankert sind. Zusammen mit Bürgerbewegungen in vielen Teilen Indiens arbeiten sie derzeit an dem Entwurf, der in der kommenden Legislaturperiode vorgelegt werden soll.

Weitere Informationen: http://www.napm-india.org/, www.narmada.org

Jinu Abraham ist Mitarbeiterin von Kabani - the other direction, einer tourismuskritischen Initiative im südindischen Bundesstaat Kerala.

(6.853 Anschläge, 93 Zeilen, März 2011)