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Die Farbe unserer Pässe


Den größten Teil des 4. Novembers 2003 verbrachte ich auf dem spiegelblanken, effizienten internationalen Kopenhagener Flughafen Kastrup, wo ich versuchte, an Bord eines Flugzeugs zu gelangen, das mich zu einer akademischen Konferenz bringen sollte. Ich hatte ein gültiges Ticket, einen gültigen indischen Pass, ein gültiges dänisches Dauervisum und die üblichen Briefe meiner Arbeitgeber in Dänemark und der Konferenz-Organisatoren in München.

Ich hatte – wie man es von Wissenschaftlern, die zu wissenschaftlichen Konferenzen fliegen, erwartet – die preisgünstigste Route gewählt, über London-Heathrow. Ich war zu Lesungen und Vorträgen mehrfach in England gewesen und hatte auch Anschlussflüge von britischen Flughäfen genommen. Doch dieses Mal erlaubte man mir nicht, an Bord des Flugzeugs zu gehen. Vor einigen Tagen hatte jemand in London die Vorschriften geändert. Nun informierte man mich in Kastrup höflich und teilnahmsvoll, dass Leute mit bestimmten Arten von Pässen ein Transitvisum benötigten, selbst wenn sie vom selben Flughafen in England einen Anschlussflug nehmen wollten. Bislang brauchte man nur dann ein Transitvisum, wenn man den Flughafen zu verlassen hatte. Das ist nun anders. Mein Pass hatte die falsche Farbe.

Schließlich gab ich meinen Plan auf, nach München zu fliegen, und kehrte an meine Universität in Åarhus zurück. Besorgte Kollegen und Freunde stellten mir die Frage, die ich erwartet hatte. „Warum beantragst Du keinen dänischen Pass? Schließlich hast Du vor rund vier Jahren das Anrecht darauf erworben.“

Es ist eine Frage, die schwierig zu beantworten ist. In Indien gibt es vieles, auf das ich stolz bin, und vieles, für das ich mich schäme. Ich bin also kein Nationalist in dem Sinne, in dem Parteien wie der Shiv Sena die Nation definieren. Ich wurde als Moslem geboren und bin am Rande dieser Nation aufgewachsen. Während all der Jahre wurden meine Identität, meine Vergangenheit, meine Sprachen in Zweifel gezogen und von „nationalistischen“ Kreisen dieser Art subtil diskreditiert.

Und dennoch ist mir nicht danach, mich für die dänische (oder irgendeine andere) Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Stimmt, mein Leben in Europa wäre dann leichter (und billiger). Ich habe einige Konferenzeinladungen abgelehnt, weil sie einfach zu spät kamen oder weil ich keine Lust hatte, mit meinem Pass, der die falsche Farbe hat, in die Festung der US-amerikanischen Botschaft in Kopenhagen einzudringen, um ein Visum zu beantragen.

Doch reichen Geld und Bequemlichkeit als Rechtfertigungen aus? Oder sind sie nicht genau der Kern dieses „Herzens des Weiß-seins“, wie Arundhati Roy es nennt, das wir oft als globalen Kapitalismus kennen lernen? Lassen sich die Übel des Kapitalismus nicht im Grunde auf zwei Formeln reduzieren: Dass finanzieller Profit (Geld) das letztendliche Ziel menschlicher Existenz sei und dass wir bequem diejenigen umbringen, manipulieren oder ignorieren können, die anders sind und weniger privilegiert?

Wenn ich meinen indischen Pass behalte, behalte ich meine Erinnerungen. Aber diese Erinnerungen sind nicht so, wie man sie in populären Ghazals* hört, sie handeln nicht von Papierschiffchen und vom Schatten der Bäume im elterlichen Dorf. Meine Erinnerungen sind Erinnerungen an Unterschiede, an Alternativen. Nicht, dass ich sie unbedingt feiern würde. Aber erinnere mich daran, dass sie existieren. Und merkwürdigerweise werde ich jedes Mal, wenn ich mit meinem indischen Pass unterwegs bin, daran erinnert, was ich mit Menschen gemeinsam habe, die mit nepalesischem, algerischem, nigerianischem oder sogar pakistanischem Pass reisen. Draußen in der Welt haben unsere Pässe alle dieselbe Farbe. Wir sind gemeinsam anders.

Egal, wie viele nukleare Sprengsätze Indien und Pakistan testen, an dieser bezeichnenden „globalen“ Realität kann das nichts ändern. […] Die Bombe hat unser Verhältnis zu dieser Welt des Weiß-seins nicht neu definiert und wird es auch später nicht tun. Da, wo es darauf ankommt, wird sie nichts ändern, nämlich an unserer Beziehung zur weißen Welt. Doch sie könnte dazu beitragen, dass wir die Beziehung noch mehr in Vergessenheit geraten lassen, die uns mit einer anderen Welt verbindet: mit der so genannten Dritten Welt.

Da ich keine dieser beiden Beziehungen vergessen will, gebe ich meinen Pass nicht auf. Mein Pass erinnert mich daran, wie sehr ich am Rande des globalen Herzens des Weiß-seins stehe, und wie kindisch und überflüssig die Kabbeleien unserer Regierungen (in der Dritten Welt) sind. Mein Pass erinnert mich daran, was ich mit Nepalesen, Algeriern, Nigerianern, ja sogar Pakistanern gemeinsam habe. Mein Pass erinnert mich daran, dass Bin Laden und Menschen wie er kaum mehr als ein Vorwand sind. Die neuen Transitvisa-Bestimmungen haben wenig mit Terrorismus zu tun, jedoch sehr viel mit der Terrorisierung von Menschen mit Pässen, die die falsche Farbe haben. Europa und die USA – und ihre Satelliten wie Australien – haben schon seit langem Angst vor denjenigen, die wenig Geld haben und nicht bequem ignoriert werden können. Diese Angst reicht lange zurück: Sie ist nicht aus den tollkühnen Aktionen einer Hand voll junger Männer erwachsen, die Flugzeuge in Gebäude in New York und Washington fliegen. Dieses tragische Ereignis bot einfach den Vorwand, gesetzgebende und andere Maßnahmen zu ergreifen, die viele im „Westen“ schon seit Jahrzehnten ergreifen wollten.

Und daher behalte ich meinen Pass. Denn ich bin in Indien geboren. Wenn ich meinen Pass aufgeben würde, dann für ein Land, das Indien in meinen Augen überlegen ist. Zwar gibt es in Ländern wie Dänemark oder England vieles, was zu bewundern ist, aber es gibt auch vieles, dessen man sich schämen muss. Das Herz des Weiß-seins leuchtet mit Lampen aus Blut.

Und heute schließt das Herz des Weiß-seins seine Arterien. Es tut Menschen mit der falschen (Pass-?)Farbe das an, was es im 18. und 19. Jahrhundert der eigenen armen Bevölkerung anzutun versuchte. Selbst der Diskurs klingt vertraut: die Armen, die keine Hilfe verdienen, Rechenschaftspflicht, Gewalt, Kriminalität, der freie Markt, etc. – all dies haben wir schon einmal gehört. Doch diesmal wird der Kampf länger dauern und erbitterter sein, denn die Armen können nicht deportiert und in „neu entdeckten“ Kontinenten angesiedelt werden, wo sie durch ihren eigenen Schweiß reich werden können, oder durch das Blut der Ureinwohner und Sklaven. Heute können die Armen der Welt nur wie Motten vom reichen Herz des Weiß-seins angezogen werden. Und so schließen Europa und die Vereinigten Staaten ihre Arterien mit neuen Vorschriften und Verordnungen.

Natürlich wissen wir aus der Medizin, dass das Blockieren der zum Herzen führenden Arterien einen Herzinfarkt bewirkt.

* Verbreitete Form des populären Liedes in Urdu, der Sprache der nordindischen und pakistanischen Moslems.

Tabish Khair stammt aus Ranchi, Indien, und ist Dozent für Englisch an der University of Åarhus, Dänemark.

Buchauszug aus: Die Geister Indiens. Ein Kaleidoskop. Hg. Claudia Wenner, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2006. ISBN-13: 978-3-596-17224-5, ISBN-10: 3-596-17224-1

Quelle des englischen Originals „The colour of our passports“: The Hindu, 21.12.2003. Deutsche Übersetzung: Christina Kamp.

(7.194 Anschläge, 99 Zeilen, Dezember 2006)