Blog

Der Berg der Wahrheit


Eine der Motivationen, auf Berge zu steigen, ist der Wunsch, dem Himmel näher zu sein. Das muss nicht im engeren Sinn religiös gemeint sein, aber bei längeren oder höheren Touren hat wohl jeder schon die Erfahrung gemacht, mit einer neuen Erkenntnis oder irgendwie ein bisschen "weiser“ vom Berg zurückzukommen. Nur wenigen gelingt es aber, auf einem Berg wirklich erleuchtet zu werden.

Die Wahrheit kann man auf dem Monte Verità oberhalb von Ascona in der Schweiz suchen. Der Aufstieg auf den 321 Meter hohen Hügel dauert nicht lange, aber der Erfolg ist auch nicht garantiert. Der Name Monte Verità gehört zu den jüngsten Bergnamen im Alpenraum und war zunächst nur der Name einer Kolonie von Aussteigern und Lebensreformern aus der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Im Frühjahr 1902 tauchte er erstmalig in einem Prospekt der ersten Siedler auf. Seitdem hält sich das Vorurteil, diese seien so von ihrer Lebensweise überzeugt, dass sie glaubten, die "Wahrheit“ gefunden zu haben.

Dabei war der Anspruch viel geringer. Man wollte nicht die Wahrheit vertreten, sondern  wahrhaftig leben. Ida Hofmann, die Initiatorin des Natur-Sanatoriums, formulierte dieses Verständnis in ihrer eigenen reformierten Orthographie wie folgt: "... dass wir keines wegs behaupten die ‘wahrheit’ gefunden zu haben, monopolisiren zu wolen, sondern dass wir entgegen dem oft lügnerischen gebaren der geschäftswelt, u. dem her konvenzioneler forurteile der geselschaft, danach streben, in wort u. tat ‘war’ zu sein, der lüge zur fernichtung, der warheit zum sige zu ferhelfen.“

Obwohl sich der Hügel nur 120 Meter über dem Lago Maggiore erhebt, wurde dieser Ort der Wahrheitssuche "Berg“ genannt, Monte Verità , denn die Wahrheit enthüllt sich eben auf Bergen, nicht auf Hügeln. Aber genügt es, einen Hügel zum Berg zu erklären? Vielleicht muss man doch höher steigen, wie es die frommen Savoyer getan haben, die schon im Mittelalter auf den Gipfeln von Dreitausendern ihre Kapellen errichteten, die heute noch bei Wallfahrten besucht werden. Oder sind die Gipfel vielleicht doch nicht so wichtig? Manchmal sind sie auch nur eine Etappe. Eine Zen-Weisheit lautet schließlich: "Wenn du den Gipfel des Berges erreicht hast, klettere weiter!“

Und wenn man auf den Bergen nicht die Wahrheit sucht? Es gibt Alternativen. Den Kletterern bietet sich im Alpsteingebiet die Freiheit (2140 m) an, Expeditionsbergsteiger können im Pamir-Gebirge den Pik Kommunismus (7495 m) besuchen - solange er noch so heißt. Und Monarchisten und Republikaner können wählen zwischen Wildem und Zahmem Kaiser. Diese kleine Gebirgsgruppe in Tirol konnten die österreichischen Bergsteiger in den Zeiten der k.u.k.-Monarchie auch zu einem anderen symbolischen Zweck nutzen: Einmal so richtig dem Kaiser aufs Dach steigen ...

Der Autor ist Sprach- und Politikwissenschaftler und schrieb ein empfehlenswertes Buch über die Alpen, die Bergler und ihre Sprachen:

Patrick Brauns: Die Berge rufen – Alpen, Sprachen, Mythen, Verlag Huber, Frauenfeld 2002, ISBN 3-7193-1270-4

Anm. d. Red.: Der "Pik Kommunizma" wurde inzwischen in "Samani" umbenannt.

(3.128 Anschläge, 45 Zeilen, Juli 2002)