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Ausgesperrt auf der Trauminsel

Follow-up, Fallstudie Madagaskar


Vor einem Jahr berichtete TourismWatch über einen Workshop des kleinen madegassischen Vereins "Association Santé et Développement /ASD" (TW 33, "Die Krise als Chance begreifen"). Als Hauptursache der tourismusrelevanten Probleme hatte sich der fehlende Respekt der Europäer gegenüber den Einheimischen herausgestellt.

"Endlich haben wir das, was uns alle längst beschäftigte, in konkrete Aussagen gefasst", kommentierten damals die acht einheimischen Teilnehmer das Workshop-Ergebnis. Zu weiteren Schritten konnte sich der bislang in der Aidsprävention tätige Verein jedoch zunächst nicht entschließen. Dazu fehlten profunde Kenntnisse zum Thema und auch ein bisschen der Mut. Tourismus ist lokalpolitisch ein "heißes Eisen", an dem man sich leicht die Finger verbrennen kann.

Die Mitglieder leben auf der Ferieninsel Sainte Marie, die vor der Ostküste Madagaskars liegt. Im September 2004 entschieden die Vereinsmitglieder dann doch, einen Schritt weiter zu gehen. Von der Insel Ileaux Nattes, südlich von Sainte Marie, hatten sie gehört, dass sich zwischen den ausländischen Investoren und der einheimischen Bevölkerung ein wachsender Konflikt entwickelte. Man wollte herausfinden, was hinter diesen Spannungen steckt.

Die Ile aux Nattes zählt zu den größten touristischen Attraktionen der Gegend. Eingebettet in eine türkisblaue Lagune, gesäumt von weißen Sandstränden und Kokospalmen, entspricht die Insel genau der europäischen Vorstellung vom Tropenparadies. Weder Kraftfahrzeuge noch Elektrizität sind bisher hierhin vorgedrungen. Trotzdem oder gerade deshalb: Ile aux Nattes boomt. Größtenteils französische Investoren haben innerhalb kurzer Zeit sieben Hotelanlagen gebaut. Begeistert von der Idylle, versuchen außerdem Touristen, sich ein Stück vom Paradies zu sichern. Entlang der Küste wurde ein Ferienhaus neben dem anderen gebaut. Praktisch alle am Meer gelegenen Grundstücke sind verpachtet oder verkauft.

Zwar sind der Strand und die folgenden 30 Meter des Landesinneren Staatseigentum, das Nutzungsrecht dieser Grundstücke und der Bestand an Kokospalmen können jedoch veräußert werden. Die Verpachtung an Europäer, auf madagassisch Vazahas genannt, schien eine ideale Verdienstmöglichkeit zu sein. Auf die Legalität und die eventuellen Nachteile der Pachtverträge wurde kaum geachtet, traditionelle Besitzansprüche innerhalb der Familien wurden vielfach übergangen. Mittelsmänner kümmerten sich um die Abwicklung der Verträge, die zudem ausnahmslos in französischer Sprache verfasst und somit ohne Übersetzer nicht nachvollziehbar sind.

"Wir hatten gehofft, die Europäer würden Fortschritt und Entwicklung zu uns bringen", so die Dorfbewohner gegenüber den Mitgliedern des ASD. "Heute müssen wir feststellen, dass die meisten Menschen hier nur Probleme durch ihre Anwesenheit haben." Für die überwiegend arme Bevölkerung, die ohnehin täglich ums Überleben kämpft, sind die entstandenen Nachteile gravierend, ja existenzbedrohend.

Die Fischer müssen jetzt große Umwege machen, um an den Strand zu ihren Pirogen (Booten) zu gelangen. Das Durchqueren der verpachteten Grundstücke ist durch die neuen Besitzer untersagt. Die lokale Regelung schreibt zwar vor, einen Pfad von 30 Zentimeter Breite freizulassen, aber niemand würde es ernsthaft wagen, die Europäer mit dieser afrikanischen Tradition zu konfrontieren. Auch das täglich zum Kochen benötigte Brennmaterial muss inzwischen kostspielig von der Hauptinsel herantransportiert werden. Der bislang dicht bewaldete Küstenstreifen hat sich in die parkähnlichen Gärten der Europäer verwandelt. Dort ist kein Brennholz mehr zu finden, selbst wenn der Zutritt zu ihren Grundstücken gestatten wäre. Madagassen dagegen haben ein ganz anderes Verständnis von Landbesitz: Nach Absprache wird ein Grundstück sehr häufig von mehreren Akteuren zu unterschiedlichen Zwecken genutzt.

"Der Umgang mit den zugezogenen Ausländern ist problematisch. Die Vazahas haben einfach immer recht. Jede alltägliche Angelegenheit wird zu einer unangenehmen Auseinandersetzung, bei der wir uns stundenlang rechtfertigen müssen", erklärt Denis Alfred, Mitglied einer angesehenen Familie vor Ort. "Sie nehmen auch nicht am Dorfleben teil", fährt er fort. "Bei einem Todesfall beispielsweise stattet hier jedes Dorfmitglied ganz selbstverständlich einen Kondolenzbesuch bei der betroffenen Familie ab. Die ausländischen Bewohner sind über diesen Brauch informiert und wir sagen ihnen Bescheid, wenn jemand gestorben ist. Es ist kaum zu glauben, aber keiner der Europäer hält sich daran. Sie beschimpfen uns sogar und behaupten, wir wollten ihnen nur Geld aus der Tasche ziehen." Er schüttelt den Kopf und fügt ernst hinzu: "So geht das nicht."

"Es scheint, als würde den Menschen hier die tiefe Überzeugung geraubt, die Europäer brächten nur Gutes, ja nur durch sie gäbe es Fortschritt. Wir müssen endlich lernen, uns unabhängig zu machen", stellt Denis Alfred fest. "Wenn beispielsweise jemand krank oder in Geldnot ist, rennt er zuerst zu den Vazahas, den Ausländern, um sie um Hilfe zu bitten. Das ist einfach so üblich, aber gut ist das nicht."

Die Jugendlichen der Insel verweigern das traditionelle Rollenverhalten. Sie wollen "modern" sein, mit dem durch Medien und Touristen transportierten Lebensstil der Nordhalbkugel mithalten. Von Landwirtschaft und Fischfang wollen sie nichts mehr wissen, stattdessen sind sie ständig auf der Suche nach Touristen, um diesen ihre Dienste anzubieten. Alkohol- und Drogenmissbrauch sind an der Tagesordnung. Durch die Entfremdung von ihren Familien entsteht ein tiefer Riss in der Gesellschaft. Islamisten haben das Potential dieser Generation erkannt und missionieren systematisch -und mit einigem Erfolg. Die Kluft zwischen den Jugendlichen und dem Rest derüberwiegend katholischen Bevölkerung wird dadurch noch größer.

Die - völlig unterbezahlten - Hoteljobs werden vorzugsweise an Auswärtige vergeben. Man hat den Eindruck, die Hotelbesitzer wollen Abstand zur lokalen Bevölkerung halten. Mit der Behauptung, es mangele dort an Hygiene, raten sie ihren Gästen zudem davon ab, in den einheimischen Restaurants zu essen. Ein Teil der Insulaner rächt sich für derartige Diffamation durch Diebstahl an den Hoteliers und Ferienhausbesitzern. Hin und wieder rauben sie auch die Rucksäcke der badenden Touristen aus.

ASD beschloss, einen Workshop mit interessierten Dorfbewohnern zu veranstalten, aus dem gemeinsam mit dem Gemeinderat der Ileaux Nattes ein Projekt entwickelt wurde. Unter der Regie des ASD und einem lokalen Komitee soll nun ein christlich orientiertes Begegnungs- und Informationszentrum entstehen, eine Diskussionsplattform und eine Beratungsstelle rund um die Probleme und Möglichkeiten des Tourismus. Durch die Einbindung der Jugendlichen in das Projekt könnten auch diese neue Perspektiven entwickeln und ihre Rolle in der Gesellschaft neu definieren. Ortsvorstand, Distriktverwaltung und das madagassische Tourismusministerium unterstützen das Vorhaben. Die Anerkennung und Finanzierung als Entwicklungshilfeprojekt vorausgesetzt, kann die einheimische Bevölkerung in Zukunft lokal und regionalstärker Einfluss auf die touristische Entwicklung nehmen.

(7.152 Anschläge, 84 Zeilen, Dezember 2004)