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Audienz beim Mount Everest

Eine respektvolle Annäherung an den höchsten Berg der Welt


Über die Tragödie im Mai 1996 am Mount Everest, bei der neun Menschen umkamen, gibt es bereits unzählige Berichte, da sich ein jeder der Beteiligten und Überlebenden bemüßigt fühlte, seine Sichtweise zum Besten zu geben. Nun aber schreibt erstmals ein Sherpa über die Katastrophe in Nepal, und zwar kein geringerer als der Sohn Tenzing Norgays, dem 1953 gemeinsam mit Edmund Hillary die Erstbesteigung des Everest geglückt war. Jamling Tenzing Norgay, der 1996 als Mitglied des IMAX-Filmteams am Berg weilte, unterscheidet sich mit seinem Buch ganz wesentlich von den Selbstdarstellungen der überwiegend westlichen Bergsteiger, deren einzige Motivation oftmals Egozentrik und Trophäenjagd sei – zumindest unterstellt dies der Sherpa. "Je länger ich das Gehabe und den Individualismus einiger Mitglieder der ausländischen Teams beobachtete, umso deutlicher wurde meine Vorahnung, dass sie das Glück herausfordern.“

Völliges Unverständnis gepaart mit Mitleid hegt er für die kommerziellen Anbieter, die seiner Meinung nach mit einer Reihe von falschen Entscheidungen ihr Schicksal besiegelten. Für ihn aber, der erst beim zweiten Versuch auf den Gipfel gelangte, war der Aufstieg eine Auseinandersetzung mit seinem übermächtigen Vater, der ebenso wie er selbst von diesem Berg besessen war. Dennoch näherten sie sich dem Gipfel mit Respekt und Demut. Da Jamling Tenzing Norgay durch eine ungünstige Prophezeiung Unglück vorausgesagt wurde, schützte er sich mit zahlreichen Gebeten und Opfergaben. Daher steht bei diesem Bericht der Buddhismus und die behutsame Annäherung an die Göttin Miyolangsangma im Vordergrund, deren Zorn über die Bergsteiger, die ihr auf dem Kopf herumtrampeln, mit Ritualen besänftigt werden muss.

Interessant lesen sich auch die historischen Einflechtungen über den Aufstieg seines Vaters und Edmund Hillarys. Noch interessanter allerdings ist die Erwähnung einer anderen Prophezeiung, wonach ein Buddhist als erster auf dem Gipfel des Everest stehen würde. Damit greift der Autor die leidige Diskussion wieder auf, wer denn nun tatsächlich als Erster auf dem Gipfel stand: der Sherpa oder der Neuseeländer?

1996 aber säumten Leichen den Weg, an einer Stelle die eines vor Jahren umgekommenen Bergsteigers, an anderer Stelle die nur wenige Tage zuvor verunglückten Scott Fischer und Rob Hall. In dieser Höhe ist an eine Bergung der toten Körper nicht zu denken. Ein grauslicher Anblick, und man fragt sich einmal mehr, ist es das wert?

Wenngleich diese Frage unbeantwortet bleibt, so grenzt sich Tenzings Bericht in einzigartiger Weise von den anderen Bergsteigergeschichten ab, da hier ein Sherpa aus einer gänzlich anderen Perspektive über den Berg schreibt. Für das Volk der Sherpa ist der Everest zwar eine wichtige Finanzquelle, dennoch nähern auch sie sich dem Gipfel mit Ehrfurcht. Nicht nur körperlich, sondern auch mental müsse man sich auf einen Berg vorbereiten, so Norgay. Beim Bergsteigen gelte es, Umsicht zu entwickeln und nicht etwa hochmütig auf Gefährten und die Umwelt herabzublicken. Gänzlich arrogant und verwerflich findet er die Redewendung "den Berg bezwingen“. Vielmehr sei es so, dass der Berg dem Bergsteiger lediglich eine Audienz gewähre.

Jamling Tenzing Norgay: Auf den Spuren meines Vaters. Die Sherpas und der Everest. Diana Verlag, München/Zürich 2001

(3.409 Anschläge, 49 Zeilen, Juli 2002)