Interview

Interview: »Industrie ohne Schornsteine«

Antje Monshausen spricht mit OXI über das janusköpfige Gesicht des internationalen Tourismus und seine Transformationspotenziale


»Brot für die Welt« ist ein Hilfswerk der evangelischen Landeskirchen und Freikirchen in Deutschland für die weltweite Entwicklungszusammenarbeit. Auf den ersten Blick hat das mit Tourismus nicht so viel zu tun.

Tatsächlich waren die Kirchen in Asien und Lateinamerika Vorreiter dabei, die negativen Seiten des Tourismus zu thematisieren. Mit dem Aufkommen des internationalen Ferntourismus in den 1970er Jahren sind die Kirchen dieser Regionen auf die Sendeländer in Europa und den USA zugegangen und haben deren Kirchen aufgefordert, mehr zu machen für die Vorbereitung und Bildung der Reisenden, um so die Menschen in den Reiseländern vor Ausbeutung und kultureller Dominanz zu schützen. Ein wichtiges Thema war der Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung, das Thema beschäftigt uns leider bis heute. Und sie setzten zwei weitere Themen, die immer noch aktuell sind. Zum einen, dass der Tourismus die Fortsetzung kolonialer Traditionen sei, weil er neue Abhängigkeiten schafft und die Menschen in den Zielgebieten ausnutzt, stereotyp darstellt und ihnen keine Mitsprache ermöglicht.

Auch damals waren zum anderen bereits die Auswirkungen des Tourismus auf die Umwelt ein drängendes Thema. Engagierte Christ:innen gingen also in europäische Länder, zum Vatikan, nach Genf und haben darum gebeten, dass die Kirchen hier sich mehr für die  Sensibilisierung der Reisenden engagieren sollen, damit der Tourismus dort sich positiv auf die Menschen auswirkt. 

Womit wir auch bei ökonomischen Aspekten wären.

Ja, heute ist der Tourismus in jedem dritten Entwicklungsland die Hauptdevisenquelle. Wir haben Länder, wo er die Hauptwirtschaftsaktivität ist, und sehen kaum ein Land in Afrika, Asien oder Lateinamerika, das nicht Tourismus in seinen wirtschaftlichen Entwicklungsplänen verankert hat. Da gibt es also historisch bis in die Gegenwart gute Gründe, sich als kirchliches Entwicklungswerk aus entwicklungspolitischer Perspektive mit Tourismus zu beschäftigen. Ein bisschen exotisch wirkt es nur deshalb, weil es dem Tourismus bis heute gelungen ist in der Zivilgesellschaft und in der Politik weitgehend als eine Industrie ohne Schornsteine mit weißer Weste wahrgenommen zu werden, die grundsätzlich mehr Nutzen als Schaden verursacht.  

Da klaffen Wunsch und Wirklichkeit oft weit auseinander. Beispielhaft: In welchen Ländern ist Tourismus die Hauptquelle des Bruttoinlandsproduktes?

Ganz massiv auf den sogenannten SIDS, den Small Island Development States, kleine Entwicklungs-Inselstaaten in der Karibik und im Pazifik zum Beispiel oder rund um Afrika. Das sind Länder, die auch wenig andere wirtschaftliche Entwicklungssektoren haben. Diese Länder investieren trotz knapper Kassen und hoher Schulden massiv ins internationale Tourismusmarketing. Einige subventionieren sogar die Charterflüge der Reisenden, um sich auf der touristischen Weltkarte zu platzieren. Grundsätzlich ist Tourismus für viele Länder eine vermeintlich attraktive wirtschaftliche Perspektive im Vergleich zum Beispiel zu Rohstoffausbeutung mit ihren massiven ökologischen Folgen am Abbauort. Die Folgen, die der Tourismus aber beispielweise auf den Klimawandel hat, sind nicht so unmittelbar sichtbar.

Obwohl ich in den Publikationen von tourism watch eine Grafik zum Flächenverbrauch gefunden habe, den der Tourismus verursacht. Das ist beeindruckend schlimm. Auch was die Prognosen für die nächsten Jahrzehnte anbelangt. Der Tourismus hat ein janusköpfiges Gesicht.

Auf jeden Fall. Für den Flächenverbrauch gilt: Ja, der ist massiv, gerade wenn man da auch Flughäfen, Tiefhäfen für Kreuzfahrtschiffe etc. hinzuzieht. Das ist rein quantitativ aber nicht vergleichbar mit dem Flächenverbrauch agrarindustrieller Plantagenwirtschaft. Trotzdem kommt es zu massiven Landkonflikten, denn mehr als drei Viertel aller Reisen finden in Küstengebieten statt. Zugleich leben 37 Prozent der Weltbevölkerung an Flüssen und Küsten. In der Summe führt das zu Flächenkonkurrenzen in diesen Gebieten. Fischer werden vertrieben oder kommen nicht mehr an den Strand wegen der Hotelbauten und verlieren ihre Erwerbsgrundlage.

Es erstaunt, wie sehr die Kirchen bei diesem Thema Vorreiterinnen und Vordenkerinnen waren und sind. Bereits 1972 gab es eine tourismuskritische Konferenz der Kirchen. In der Karibik – einem Sehnsuchtsort vieler Menschen, die sich reisen leisten können. Am Anfang ging es vor allem um Kritik des Kolonialismus, bzw. Neokolonialismus.

Die Fortentwicklung eines kolonialen Systems durch den Tourismus ist bis heute ein wichtiges Thema. Der Tourismus steht noch ganz am Anfang sich zu de-kolonisieren. Das Aufkommen des Massentourismus in Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas fällt nicht zufällig zeitlich mit dem Erlangen der Unabhängigkeit vieler Länder in den 1960er Jahren zusammen. Die Regierungen waren nach der Unabhängigkeit darauf angewiesen, schnell ein wirtschaftliches Standbein zu schaffen. Ein Beispiel möchte ich nennen:  Im Jahr 1965 sagte sich das kleine westafrikanische Land Gambia von der Britischen Krone los. Im selben Jahr kamen die ersten 300 skandinavische Tourist:innen – Britinnen und Briten folgten schnell. Heute ist Gambia für die Briten das, was das frühe, unregulierte Mallorca für die Deutschen war: reinster Ressort-Tourismus mit wenigen wirtschaftlich stabilen Einnahmen und ohne kulturellen Austausch.  Die Leute kommen von November bis Februar mit Chartermaschinen angeflogen, die restlichen Monate findet kein Tourismus statt. Sextourismus ist ein riesiges Problem und zugleich Nachfragetreiber insbesondere für wohlhabende Tourist:innen aus Europa. Die 60 Küstenkilometer des Landes sind fast vollständig touristisch erschlossen – der Rest des Landes gar nicht. Das alles bildete sich in diesen Zeiten kurz nach der Unabhängigkeit heraus. Wir reden heute viel über Neokolonialismus und im Tourismus ist das gar kein neues Thema.  Über die Probleme, die damit einhergehen, wurde auch schon vor 50 Jahren nachgedacht.

Auf der anderen Seite ist der Tourismus der einzige Sektor, bei dem die Menschen dorthin gehen, fahren oder fliegen, wo das Produkt entsteht. Beim T-Shirt gehen sie hingegen in einen anonymen Store oder kaufen es online, ohne etwas über die Lebensrealitäten der Produzent:innen zu erfahren. Daher steckt im Tourismus auch das Potenzial emanzipatorischer Bildungsarbeit. Das wird aber nicht gehoben, wenn die Menschen in ihren All-inclusive Hotels bleiben und inszenierte Tänze und spirituelle Performances »besichtigen«. Wer hingegen einmal im Urlaub gesehen hat, unter welchen Bedingungen Zuckerrohr angebaut wird – wenn die Kinder morgens um vier mit Bussen auf die Plantagen gefahren werden und unter schlimmsten Bedingungen schuften –, wird danach vielleicht überlegen, welcher Zucker künftig gekauft wird.

Bewusstseinswandel wäre möglich. Es gibt also das appellative Moment: Schau genauer hin, wenn du reist. Aber dazu müssten internationalen Vereinbarungen und Regeln geschaffen werden, um die Dinge zum Besseren zu wenden.

Ja, das stimmt. Der Tourismus ist ein hochgradig unregulierter Wirtschaftsbereich. Tourismus ist Destinationspolitik, beschäftigt sich also mit den Möglichkeiten des Marktes am touristischen Ort. Er ist ein Niedriglohnsektor, auch hierzulande. 62 Prozent der Menschen, die in Deutschland im Hotel- und Cateringbereich arbeiten, tun dies zu Niedriglöhnen. Wenn es Regulatorien gibt, begünstigen diese oft negative Entwicklungen, indem sie zum Beispiel Investitionsanreize in touristischen Sonderwirtschaftszonen setzen und dabei Umwelt- und Arbeitsschutzgesetze abbauen.

Wir müssen aber auch die Rolle der Unternehmen, der Reiseveranstalter betrachten. 80 Prozent der Reisen in Länder des Globalen Südens werden über Reiseveranstalter abgewickelt. Heißt, diese Unternehmen haben große Verantwortung in einem weitgehend unregulierten Bereich.
Und dann haben wir auch die Verantwortung der Reisenden, die mit ihren Entscheidungen Dinge zum Besseren oder Schlechteren wenden können. Aber natürlich muss die Politik sowohl vor Ort in den Reiseländern als auch international den Tourismus ernster nehmen und Regulatorien entwickeln, die Mensch, Umwelt und Klima effektiv schützen.

In einem Lied des Schweizer Sängers Faber heißt es: »Die einen ertrinken im Überfluss, die anderen im Meer«. Übertragen auf den Tourismus lässt sich heute sagen: Die einen können reisen, die anderen müssen fliehen. Ein ethischer Konflikt?

Reisen ist ein Privileg. 95 Prozent der Weltbevölkerung reisen nicht. Als Reisende hat man das Gefühl, die ganze Welt reist auch. Weil man unterwegs nur Reisende trifft. Man übersieht schnell, dass auch in Deutschland 30 Prozent der Bevölkerung gar nicht reisen. Weil sie krank sind, körperliche Einschränkungen haben oder arm sind. Es war eine Scheindebatte, als es vor der letzten Bundestagwahl hieß: Wir wollen den Leuten das 70-Euro-Ticket nach Mallorca nicht wegnehmen. Menschen, die von Armut betroffen sind, reisen auch nicht für einen Flugpreis von 70 Euro. Aber sie zahlen mit bei den 12 Milliarden klimaschädlichen Subventionen, die in den Flugverkehr jährlich fließen.

Dazu kommt das Privileg, einen Pass zu haben, der eine visafreie Einreise ermöglicht. Deutschland ist regelmäßig unter den Top-5, was das anbelangt. In Pakistan können Menschen in gerade mal fünf Nachbarländer visumfrei reisen.

Sie fragten auch nach dem Zusammenhang zwischen Fliegen und der Klimakrise: Nehmen wir alles mit rein, sind wir bei 12-14 Prozent, die Tourismus und Flugverkehr zum menschgemachten Klimawandel beiträgt. Eine Konsequenz daraus müsste sein, alle Flüge, die vermeidbar sind, zu vermeiden – in Europa beispielweise auf den Schienenverkehr zu setzen. Wir können es uns nicht mehr leisten, vermeidbare Flüge zu machen. Auch die Frequenz im Ferntourismus muss massiv runter gehen. Deswegen gilt: lieber seltener fliegen und länger bleiben. Für viele Urlaubsländer wäre das übrigens finanziell weniger problematisch als es klingt, denn mit längeren Aufenthaltszeiten steigen auch die Ausgaben vor Ort. Sozial und kulturell wäre es ebenfalls vorteilhaft, denn dadurch könnte das Potenzial Land und Leute kennenzulernen und sich auf die lokalen Gegebenheiten einzustellen, besser gehoben werden. Perspektivisch können die Länder auch den nationalen und regionalen Tourismus erschließen, der wesentlich stabiler ist als der Ferntourismus.

Es gibt die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, die eine sozial-ökologische Transformation fordert. Immerhin oder zu unverbindlich?

In dieser Agenda ist der Tourismus drei Mal genannt und immer als Potenzial beschrieben. Hinzukommt, dass alle Regelungen weitgehend unverbindlich bleiben.

Sie ist also kein Game-Changer für die Art, wie Tourismus stattfindet. Es gibt zudem viele parallele Agenden, die in konträre Richtungen laufen. Vereinbarungen gegen die Besteuerung des Flugverkehrs, seien nur als Beispiel genannt. Auf der anderen Seite ist die Agenda 2030 eine Vision und zeigt eine Richtung. Als sie 2015 von 192 Länder unterzeichnet wurde, war das ein starkes Signal, dass eine Veränderung hin zu mehr Nachhaltigkeit nötig ist.

Wir haben uns deshalb danach in unseren zivilgesellschaftlichen Netzwerken hingesetzt und gefragt, was nachhaltige Entwicklung für den Tourismus bedeuten müsste, und haben 2017 drei Grundprinzipien herausgearbeitet: Menschenrechte und Selbstbestimmung der besuchten Gemeinschaft müssen im Mittelpunkt stehen, wirtschaftliche und soziale Vorteile müssen gerecht verteilt werden, für Reisende und Gastgebende soll Tourismus eine positive und sinnstiftende Erfahrung darstellen. Man müsste aus heutiger Sicht die Klimafrage noch stärker betonen. Doch das Prinzip, dass wer den Klimaschaden verursacht, dafür auch zur Rechenschaft gezogen wird, ist bereits verankert. Das bedeutete unter anderem eine radikal andere Preisstruktur im Flugmarkt, klares Umsteigen auf landgebundene Verkehrsmittel, wo immer das möglich ist.

Und was man heute auch viel stärker diskutiert, ist die Frage der Resilienz.

Was ist damit gemeint?

Die Fähigkeit mit Krisen und Katastrophen umgehen zu können. In dem Sinne war Corona ein Realexperiment. Was passiert, wenn Tourismus geradezu von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich ist? Zu dem Zeitpunkt war der Tourismus im Zenit seiner Macht. Und dann ging es auf null. Natürlich war Covid eine Pandemie der Ungleichheit, wie der UN-Generalsekretär es benannte – das stimmt auch für den Tourismus. Am schlimmsten betroffen waren Arbeiterinnen und Arbeiter im informellen Sektor, der mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze ausmacht. Für Wanderarbeitende war die Situation besonders schlimm.  Die Bilder aus Indien von Menschen, die teilweise tausende Kilometer nach Hause gewandert sind, um dort irgendwie zu überleben, gingen um die Welt. Die Arbeiter:innen auf den Kreuzfahrtschiffen, meist aus asiatischen Staaten, saßen monatelang in den europäischen Häfen ohne Geld fest. Das heißt: die schwächsten – auch im Tourismus – traf Corona am härtesten. Besonders in den ersten Monaten.

Aber gerade im Tourismus konnte man sehen, dass auch ein Leben ohne Tourismus vorstellbar und vielleicht an manchen Orten sogar erstrebenswert ist. Ein Team von Wissenschaftler:innen in Neuseeland hat untersucht, was der Tourismus mit dem Wohlstand in fünf pazifischen Inselstaaten gemacht hat, die stark vom Tourismus abhingen. Wohlstand wurde dabei als wirtschaftliches, spirituelles, soziales und kulturelles Wohlbefinden definiert. Es zeigte sich, dass der Wohlstand in allen Dimensionen zunahm. Die Verbindung der Menschen zu ihrem Land wurde stärker. Viele begannen, in kleineren Zusammenhängen zu wirtschaften – zum Beispiel stellte sich dort heraus, dass die Seegrasproduktion für viele Menschen um einiges rentabler war als der Tourismus und dieser Sektor viel selbstbestimmter ist.

Also wäre die Welt doch besser ohne Tourismus?

Ganz klares Nein – aber es kommt darauf an, wie der Tourismus gestaltet wird. Der Tourismus muss sich von einer hochgradig emissionsintensiven Branche bei oft geringen wirtschaftlichen Vorteilen in den Zielländern und einer zugleich hochgradigen Vulnerabilität, also Anfälligkeit für Krisen, wegbewegen. Hin zu einer ressourcenärmeren Branche mit hoher Resilienz. Ich habe lange über die Frage nachgedacht, ob der Tourismus sich innerhalb seines Sektors transformieren kann oder ob eine Transformation zu mehr Nachhaltigkeit bedeutet, andere Sektoren in den Blick zu nehmen und den Tourismus zu beenden. Heute bin ich mir sicher:  Der Tourismus kann sich innerhalb seines Sektors transformieren. Andere Sektoren können das nicht. Die müssen einfach aufhören. Kohleabbau muss beendet werden, der geht nicht nachhaltig. Der Tourismus aber könnte sich radikal verändern – und er muss es tun. Denn wenn er die Veränderungen in der Welt nicht proaktiv annimmt, wird er keine Zukunft haben. Change will come – by design or by desaster!

Antje Monshausen ist Diplomgeografin und Leiterin des Referats Wirtschaft und Nachhaltigkeit bei »Brot für die Welt«. Von 2012 bis 2023 leitete sie die Arbeitsstelle »Tourism Watch«. Mit ihr sprach Kathrin Gerlof