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"Survival" in der "Wildnis"?

Ein Plädoyer für "Leben" statt "Über-Leben"


Neu ist das nicht: Seit bald schon zweihundert Jahren suchen wir zivilisierten Westeuropäer und Nordamerikaner den Aufenthalt in der Natur als Ausgleich für ein naturfernes Alltagsdasein. Mal so und mal anders, je nach persönlicher Neigung und herrschendem Zeitgeist - aber die Triebkraft des Ganzen ist dieselbe geblieben: Es fehlt uns etwas, das wir im Nahkontakt mit der Natur wiederzufinden hoffen.

Eine der neueren Manifestationen von Zeitgeist und Neigung sind ungezählte Kursangebote, Reisen, Handbücher und Ausrüstungsgegenstände, die das "Überleben in der Natur" zum Thema haben. Es werden mehr und mehr. Die Survival-Branche boomt.

Was steckt dahinter?

Es zeigt wohl zunächst einfach das Bedürfnis nach Therapie für unsere zivilisationskranken Seelen. Das vorrangige Ziel der meisten Survival-Angebote ist die Entwicklung der Persönlichkeit und die Wiederbelebung verschütteter innerer Kräfte. Das Mittel ist das Kräftemessen mit den ungezähmten Naturgewalten, und mit sich selbst: Die Selbstbestätigung, die im Meistern schwieriger Situationen und im Überwinden innerer und äußerer Hindernisse liegt.

Eine weitere Triebkraft mag auch schlicht und einfach die Freude am Austüfteln und Ausprobieren von technisch möglichst perfekter Ausrüstung sein.

Wichtig ist für die Meisten wohl außerdem die Neuentdeckung einer innigen Verbundenheit mit der Natur, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, das Zurück zu den Wurzeln einer naturnahen Kultur. Die Bewunderung für die Naturverbundenheit und die Überlebensfertigkeiten von Jäger- und Sammlervölkern, so wie wir sie uns vorstellen, geht einher mit der Begeisterung für Naturreligionen und für verschiedene Ausdrücke von Naturspiritualität.

Die Grundlage für alle "Survival"-Angebote ist die Vorstellung von der Natur als "Wildnis" - dem Gegenteil von "Zivilisation". Diese Vorstellung ist jedoch untrennbar mit unserer westlichen industrialisierten Kultur verbunden. Für Angehörige eines "Naturvolkes" muss sich der Begriff "Wildnis" vollkommen sinnlos ausnehmen.

Denn was wir "Wildnis" nennen oder "unberührte Natur", ist für sie weder "wild" noch "unberührt", sondern alltäglich und vertraut. Es ist die alles bestimmende Rahmenbedingung ihres Lebens, mit der sie von Kindsbeinen an umzugehen gelernt haben. Das Überleben in den Eiswüsten der Polarregionen war zum Beispiel für die Inuit-Völker ("Eskimos") bis in unser Jahrhundert hinein zwar alles andere als eine Selbstverständlichkeit, aber die erforderlichen Verhaltensweisen, Fertigkeiten und inneren Haltungen waren ein selbstverständlicher Teil ihres alltäglichen Lebens.

Das lernst du nicht in einem Kurs. Dazu brauchst du ein ganzes Leben.

Unser Bedürfnis nach intimem Naturkontakt ist echt und tiefempfunden. Echte und tiefempfundene Bedürfnisse soll man ernst nehmen. "Die Natur" ist uns zu fern und zu fremd geworden; wir sehnen uns nach einer verlorengegangenen Vertrautheit mit ihr als Bestandteil unserer Lebensumgebung.

Aber dieser Weg zur Vertrautheit beginnt nicht mit Grenzüberschreitungen. Dramatische Auseinandersetzungen mit "wilden" Naturkräften zum Zweck der Entwicklung des eigenen Egos führen uns nicht näher an die Natur heran, sondern seelisch eher weiter von ihr weg, weil die Fremdheit und der innere Abstand eine Voraussetzung für das Erlebnis von "Wildnis" ist.

Der Weg zur Vertrautheit mit unserer Umgebung beginnt vielmehr mit kleinen, zaghaften Schritten, die erst im Laufe der Jahre größer und sicherer werden.

Nicht Kampfgeist ist dabei gefragt, und keine besondere spirituelle Praxis. Gefragt ist vielmehr schlichte Anpassungsfähigkeit, und das Vermögen, festgefügte Vorstellungen und Prinzipien - wenn nötig - über Bord zu werfen. Die Herausforderung besteht im Finden von einfachen, zweckmäßigen Lösungen für ganz praktische Probleme - Lösungen, wie sie eben nur durch langjährige Erfahrung zustande kommen.

Am besten gerüstet für Unvorhergesehenes bist du mit so altmodischen Tugenden wie Geduld und Selbstbeherrschung. Von unschätzbarem Wert ist außerdem eine so wenig dramatische Eigenschaft wie Humor. Den Ehrgeiz und das Bedürfnis nach persönlichem Status musst du mit realistischer Selbsteinschätzung ersetzen, und gegebenenfalls mit der notwendigen Selbstbegrenzung: In einer Umgebung, in der du mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an die Grenze des Überlebens stößt, hast du schlicht nichts zu suchen. Solcher Verzicht auf die Befriedigung unseres Geltungsdrangs ist wahrscheinlich das Schwierigste von allem.

Und nichts von alledem lernst du in einem Kurs, sei er auch noch so seriös, gewissenhaft und umfassend angelegt.

Schau den Straßenverkehr, zum Beispiel: Etwas vom Gefährlichsten, an dem wir regelmäßig teilnehmen, und dem wir uns täglich aussetzen. Tagtäglich kalkulieren wir das Risiko mit einer inneren Haltung, die uns kaum mehr bewusst ist: Kühle Einschätzung verschiedenster Situationen, zielgerichtete Entschlusskraft, und das Vertrauen in unsere Fähigkeit, jederzeit der Situation entsprechend richtig zu reagieren. Kurz - eine innere Haltung, die uns, wenn wir ihr in Schilderungen von Expeditionen in ferne Länder begegnen, Ehrfurcht und Bewunderung abringt.

Warum kommt es niemandem in den Sinn, "Survival"-Kurse im Straßenverkehr anzubieten? Warum begnügen wir uns hier mit trocken-sachlicher, pragmatischer "Verkehrserziehung", "Unfallverhütung" und Erste-Hilfe-Lehrgängen?

Weil der Straßenverkehr für uns nicht "wild" und unbekannt ist, sondern alltäglich und vertraut. Er ist Rahmenbedingung unseres Lebens, mit der wir von Kindsbeinen an umzugehen gelernt haben. Zunächst mit kleinen, zaghaften Schritten, die erst im Laufe der Jahre größer und sicherer wurden. Das Überleben im Straßenverkehr ist statistisch gesehen ganz und gar keine Selbstverständlichkeit, aber die erforderlichen Verhaltensweisen, Fertigkeiten und inneren Haltungen sind ein selbstverständlicher Teil unseres alltäglichen Lebens.

Das lernst du nicht in einem Kurs. Dazu brauchst du ein ganzes Leben.

Wer mit der "Wildnis" auf dieselbe Weise vertraut werden will, muss zuallererst die "Wildnis" als Vorstellung in seinem Kopf und als Zielobjekt der Sehnsucht in seiner Seele abschaffen. Schritt für Schritt. Was vertraut wird, wird nie mehr "wild" sein. Das "Über-Leben" macht dem LEBEN Platz.

Mir gefällt übrigens der skandinavische Name für dieses Phänomen am besten: "Friluftsliv": Leben unter freiem Himmel.

Mehr brauchen wir doch nicht. Oder?

(6.393 Anschläge, 87 Zeilen, Dezember 2002)