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"Raheel" – Abreise

Impressionen und Reflektionen aus Palästina


Es gibt eine Band in Beit Sahour bei Bethlehem, die Jadal Group. Es ist eine Gruppe junger Musiker, die gute Musik quer durch alle Musikrichtungen macht. Ihre CD heißt "Raheel" - Abreise. Man kann abreisen, etwas verlassen, man kann verlassen sein, sich aber auch auf jemanden verlassen. Der Abflug kann sich in Träumen und im Geiste vollziehen. Abreisen heißt, seine Grenzen, ganz persönlichen Grenzen, zu erweitern, sich etwas Neuem anzunähern.

Rami Kassis, Leiter der Alternative Tourism Group (ATG) hat uns zum Konzert der Jadal Group ins "Jadal Center for Culture and Social Development" eingeladen. Der Konzertraum ist voller junger Menschen aus Palästina und Europa, darunter auch unsere Gruppe, die Teilnehmer einer Studienfahrt, 12 Personen im Alter von 18 bis 68 Jahren, die sich in verschiedenen Zusammenhängen (Kirche, Gewerkschaften, politische Gruppen) mit dem Nahen Osten beschäftigen. Viele der Palästinenser sind Aktivisten, junge Menschen, die bereit sind, das Unmögliche möglich zu machen.

Alles hinter sich lassen

In die Musik der Jadal Group spielt so vieles mit hinein: Traum und Realität, Wunsch und Wirklichkeit, Hoffung und resignierte Wut. Es sind die Gegensätze des Lebens, die die jungen Musiker inspirieren. Gewidmet ist ihre CD allen Menschen, die abgereist sind, die alles hinter sich gelassen haben und, wie mir kürzlich ein palästinastämmiger Duisburger erzählte, vielleicht vor Schmerz nicht mehr zurück können. Und sie ist denen gewidmet, die weg wollen, aber noch da sind, weil sie Vieles hält.

Es gibt so viele Gründe, in Palästina alles hinter sich zu lassen: Kontrollen, die Schikanen durch die Besatzungsmacht, tägliche Demütigungen an der Mauer. Junge israelische Schnösel fragen palästinensische Arbeiter "Wo willst du hin?", "Wo kommst du her?", "Was hast du in deiner Tasche?" Sie kommandieren herum: "Zieh deine Schuhe aus!", "Zeig' mir deine Papiere!", "Geh weiter!", "Hau ab!", "Verschwinde!" (am besten für immer). Auch wenn sich die Menschen Palästinas ihren Schmerz nicht ansehen lassen, es müssen Stiche ins Herz sein.

Willkür, täglich überall

Plötzlich eine israelische Kontrolle auf einer Landstraße. Wir fahren kilometerlang in entgegen gesetzter Richtung an einem Konvoi von Autofahrern vorbei, die eigentlich nur Feierabend machen wollen. Lethargisch blickende Menschen lassen scheinbar emotionslos die Kontrolle über sich ergehen. Keiner fragt mehr nach dem Sinn.

Abends spät am Grenzübergang zwischen Dschenin und Nazareth: Stopp, hier geht´s nicht weiter. Warum nicht? Sind wir zu spät? Ist der Bus zu groß oder zu klein? Sind wir zu viele oder zu wenige? Sind wir vielleicht ein Sicherheitsrisiko? Sind wir im falschen Moment am falschen Ort? Wahrscheinlich. Wir kehren um, fahren vier Stunden Umweg, um irgendwann fast an der gleichen Stelle, nur jenseits der Grenze, herauszukommen. So wären Maria und Josef nie nach Bethlehem gelangt.

Wasser, das Gold Arabiens, ist reduziert und kontrolliert und viel zu teuer, um einfach den Garten zu bewässern. Es wird rationiert oder einfach abgestellt, während "die da oben, auf dem Berg" in ihren modernen Raubritterburgen ihre Kinder in Swimmingpools planschen lassen.

Arbeit, was ist das?

Über 50 Prozent der Menschen in Palästina sind arbeitslos. Viele arbeiten als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Andere suchen in der Tourismusbranche ihr Glück, schnitzen Krippenfiguren, bedrucken T-Shirts mit allen Parolen und Sprüchen, die das Touristenherz begehrt, wahlweise für oder gegen Palästina, egal, ob mit den Konterfeis Che Guevaras, Arafats oder eines israelischen Kampfbombers. Sie verkaufen Kreuze, Halbmonde, echte Steine aus dem See Genezareth oder tauschen Schwarzgeld. Wer Glück hat, hat einen Job bei den Israelis, natürlich ganz schlecht bezahlt, natürlich ohne soziale Absicherung, natürlich sofort kündbar, aber vielleicht immerhin genug, um das teure Leben irgendwie zu bestreiten.

Resignation

Egal wo wir hinkommen, es gibt kaum eine offizielle Stelle oder Organisation, die uns Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht. Es gibt keine Ideen, keine Anzeichen für praktikable Lösungen. Eine Zweistaatenlösung, wie soll die aussehen? Schon jetzt gibt es das "Freiluftgefängnis Gaza" und ein in mindestens drei Teile geteiltes Westjordanland. Bald wird der Ring israelischer Siedlungen um Ostjerusalem geschlossen sein. Dann ist auch die Hauptstadt in spe von der "Westbank" getrennt. Hinzu kommt die unsinnige Einteilung in Zonen. Wenn man die Landkarte ansieht, meint man ein neues Strategiespiel sei auf dem Markt, bei dem man schwierige Aufgaben lösen muss, z.B. "Fahren Sie von Hebron nach Nablus auf dem schnellsten Weg, ohne verhaftet zu werden."

Weg von Heimat und Familie?

Vor allem die Christen, die vermutlich bessere Beziehungen ins christliche Ausland haben, wandern aus, machen im wahrsten Sinne des Wortes den Abflug. Für die palästinensische Familie, in der wir für zwei Tage wohnten, ist Griechenland das gelobte Land. Dort könnte die Tochter schon mal studieren und dort eruiert ein bereits emigrierter Verwandter die Lage vor Ort. Und eines Tages dann...

Aber es gibt auch ebenso viele Gründe, nicht weg zu können - noch nicht! Die gleiche Familie, die von Griechenland träumt, kann sich umgekehrt nicht vorstellen, nicht mehr in Bethlehem zu wohnen. "Hier bin ich geboren, hier sind meine Freunde, hier kenne ich jeden und mich kennt jeder, hier bin ich zu Hause. Und hier steht unser Haus - mehr haben wir nicht", sagt Mirwate Bannoura, Hausfrau und Mutter der Familie.

Ein junger Mann aus dem Flüchtlingslager Al Amery, in Ramallah meint auf unsere Frage, warum er diesen unglücklichen Ort nicht verließe, dass hier seine gesamte Familie lebe. Er trage für sie Verantwortung. Sie baue auf ihn. Es ist für ihn überhaupt nicht vorstellbar, als "Single" in die Welt zu ziehen und sein Glück zu suchen. "Ihr Europäer - was habt ihr für eine Vorstellung von Familie?"

"Weil das hier unser Land ist"

Das Dorf Mjdal Shams liegt ganz im Norden der Golanhöhen, direkt an der Grenze, an der Sicherheitszone. Auf der anderen Seite ist Syrien. Auf dieser Seite eigentlich auch. Aber seit 1967 sind hier die Israelis. Mitten im Dorf haben sie einen Militärposten auf einer Anhöhe, rundherum Stacheldraht und Minen. Manchmal bricht wegen der Erosion etwas Hang herab und die Minen rutschen mit hinunter, in die Gärten der Familien. Für Kinder werden sie dann zu tödlichem Spielzeug. Überall kleben kleine gelbe Schilder mit der Aufschrift "Minengefahr". Sie stammen noch aus dem 67er Krieg, aber noch heute sterben dadurch Menschen.

Trotzdem wird gebaut, an allen Ecken und Enden, Rohbauten und Aufstockungen. Warum nur plant hier, in dieser gottverlassenen, minendurchseuchten Gegend, wo alle Straßen zu Sackgassen werden, jemand seine Zukunft? "Weil das hier unser Land ist. Von diesem Land leben wir seit Generationen, von den Olivenhainen, den Obstplantagen, der gesamten Landwirtschaft. Die Gegend ist wasserreich und fruchtbar. Wir können von hier nicht weg", antworten die Dorfbewohner.

Hoffnung

Wie sagte uns Dr. Marcy Taiseer aus Mjdal Shams? "Eines Tages wird der Golan wieder zu Syrien gehören und das Westjordanland und Gaza werden ein freies Land sein." Die Alten aus den Flüchtlingslagern, die 1948 Kinder und Jugendliche waren, zeigen uns die Haustürschlüssel, die sie von ihren Müttern und Vätern geerbt haben. Sind sie für sie ein Symbol für etwas, was einmal war, oder tatsächlich ein Ausdruck von Hoffnung, dass eines Tages mit diesen Schlüsseln wieder Türen geöffnet werden?

In der Musik der Jadal Group hören wir die Widersprüche und Gegensätze des Landes anklingen. Zeit zum Träumen und seine Gedanken fliegen zu lassen. Die Realität Palästinas ist eine gebrochene. Kein Land für schnelle Begeisterung, und trotzdem: es fasziniert, und es lädt zur Wiederkehr ein.

Wilfried Faber-Dietze arbeitet als evangelischer Pfarrer am Berufskolleg Dinslaken. Seit 25 Jahren ist er im Kirchenkreis Dinslaken zuständig für den christlich-islamischen Dialog. Im Oktober 2009 war er auf einer Studienfahrt in Palästina und Israel, organisiert von ATG, einer Nichtregierungsorganisation in Beith Sahour, die durch eine alternative Form des Tourismus versucht, die Entwicklung Palästinas voranzutreiben.

(8.300 Anschläge, 113 Zeilen, Dezember 2009)