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Mit Rosen und Ruderbooten aus der Armut: Sonntag in den Yelagiri Hills

Ein Buchauszug von Sabine Sütterlin


Der See glitzert in der Mittagssonne. Die vier jungen Männer sind in Urlaubslaune. Sie haben das Geld für eine Bootspartie bezahlt. Jetzt warten sie auf dem Steg, bis der nächste Ruderkahn frei ist. "Was ist, wenn wir länger unterwegs sind als eine halbe Stunde", witzeln sie. Die Vermieterin ist nicht auf den Mund gefallen: "Ich rufe, wenn 25 Minuten um sind", gibt sie zurück, "wenn ihr dann doch länger braucht, zahlt ihr nach."

Die Szene wäre nicht erwähnenswert, hätte sie sich an einem Ausflugsziel irgendwo in Deutschland abgespielt. Der kurze Wortwechsel hat aber in Südindien stattgefunden, in den Yelagiri Hills im indischen Bundesstaat Tamil Nadu, und die Bootsvermieterin hat nie eine Schule besucht, die ihr das Zählen, Rechnen oder den Umgang mit der Uhr hätte beibringen können. Stattdessen musste sie sich schon mit acht Jahren als Tage­löhnerin verdingen. Devayani gehört zu den Malayalkar, einem der vielen Urvölker Indiens. Diese stehen zwar als so genannte "scheduled tribes" (nach der Verfassung gelistete indigene Bevölkerungsgruppen) formal unter dem besonderen Schutz des Staates, in Wirklichkeit gehen jedoch Gelder und Entwicklungschancen bis heute meist an ihnen vorbei. Devayani hat es nicht nur geschafft, sich aus Armut und Unwissen­heit zu befreien, sondern sogar eine erfolgreiche Kleinunternehmerin in der Tourismus­branche zu werden – mit ein wenig Unterstützung, unter anderem durch Mikrokredite, aber letztlich aus eigener Kraft. Dies ist ihre Geschichte.

Die Malayalkar siedeln in den 14 Dörfern von Yelagiri. Diese liegen auf einem Hügel, der unvermittelt aus einem endlosen Mosaik von Reisfeldern und Bananenplantagen aufragt. Eine schmale Straße windet sich in vierzehn Spitzkehren auf rund tausend Meter über Meereshöhe hoch. … Sattgrüne Reisfelder schmiegen sich in jeden freien Winkel zwischen den Dörfern. Das Klima ist angenehm, kühler und feuchter als unten in der Ebene. … In den größeren Orten Punganur und Athanavur reiht sich links und rechts der Hauptstraße ein Hotel ans andere. An Wochenenden und Feiertagen pilgern Ausflügler mit Motorrädern, Bussen oder Autos hierher.

Die meisten Gäste besuchen im Verlauf ihres Aufenthalts die Hauptattraktion von Yelagiri, den künstlich angelegten Punganur-See. Sie klettern auf die Aussichts­plattform, die im Geäst eines großen Baumes am Ufer sitzt. Sie spazieren durch den kleinen Park auf der gegenüberliegenden Seite des Gewässers, den die Tourismus­behörde von Tamil Nadu vor rund zehn Jahren erbauen ließ. Die Kinder kraxeln auf Klettergerüsten und sausen die Rutsche hinunter. Unter lauschigen Bäumen oder auf den Felsen am Ufer können die Besucher picknicken. Eine Bude bietet schnelle Snacks an, ein kleiner Laden Souvenir-T-Shirts, Süßigkeiten und Getränke.

Gleich daneben liegt die Bootsvermietung. Das Geschäft brummt, wie jedes Wochen­ende. Eine Gruppe steigt aus, die nächste geht an Bord. Ohne Pause. Es gibt zwei Tret- und acht Ruderboote. Wer selbst rudert, zahlt für eine halbe Stunde hundert Rupien, umgerechnet etwa 1,80 Euro. Wer eine Ruderkraft mit mietet, berappt pro Person zwanzig Rupien für die große Runde, zehn für die kleine. Devayani, klein und drahtig, sehr bestimmt im Auftreten, wuselt hin und her, gibt Auskunft und ruft ihren Mitarbeitern Anweisungen zu. Sie holt Wechselgeld aus der Schublade eines metallenen Schreib­tisches, hilft den Gästen beim Einsteigen, zieht zwischendurch immer wieder ihr Handy hervor, um mithilfe der eingebauten Uhr die Fahrzeiten zu überprüfen.

Devayani kann weder lesen noch schreiben. Wie kommt sie dann mit Geldbeträgen und Uhrzeiten zurecht? Zwei Tage zuvor, als gerade wenig los war, hat Devayani die Frage mit einer kleinen Vorführung beantwortet. Auf einem Mäuerchen in der Nähe des Eingangstores zum Park sitzend, bittet sie um etwas Geld. Blitzschnell blättern ihre schmalen Finger das Bündel 50-Rupien-Scheine durch, das sie gereicht bekommen hat. Dreizehn Stück. Wie aus der Pistole geschossen kommt das Ergebnis: "Sechshundertfünfzig". Als Devayani das Bündel zurückgibt, blitzen ihre Augen triumphierend. Sie genießt sichtlich die Verblüffung auf den Gesichtern der Zuschauer und fügt hinzu: "Ich kann bis zu einem Lakh zählen" – also bis Hunderttausend. …

Geboren wurde Devayani in Punganur, wo sie auch heute noch lebt. Ihre Eltern ver­dienten einen kargen Lebensunterhalt als Kulis. … "Wir wohnten damals in einer Hütte", erzählt Devayani. "Ich habe zwei Geschwister: Mein Bruder ist älter als ich, meine Schwester jünger. Mein Bruder besuchte die Schule, bis zur fünften Klasse. Uns Mädchen hätten die Eltern wohl auch zur Schule geschickt, aber das Geld reichte nicht, um Bücher zu kaufen.? … Als sie acht Jahre alt war, starb der Vater, und bald danach auch die Mutter. "Sie hatten Fieber", weiß Devayani nur. "Medizin konnten wir uns nicht leisten, und ohnehin hätte es sie nur in Tirupattur gegeben." Das Städtchen Tirupattur liegt unten in der Ebene, einige Kilometer von den Hills entfernt. Die drei Waisen wuchsen bei den Großeltern auf, die als Wächter auf einer Farm angestellt waren und dort auch eine Hütte zur Verfügung gestellt bekamen. "Die Großeltern haben alles, was ich verdiente, beiseite gelegt für meine Hochzeit." Als Devayani achtzehn war, wurde sie mit einem von den Großeltern ausgesuchten Bräutigam verheiratet. …

"Ob wir Arbeit haben würden, erfuhren wir aber immer von heute auf morgen. Oft genug hatten wir auch gar nichts. So kam nur sehr unregelmäßig Geld herein. Irgend­wann fing ich dann mit den Blumen an. Das kam mir einfach so in den Kopf" … Devayani kratzte also ihre Ersparnisse zusammen, kaufte Blumen und karrte sie im voll besetzten Bus nach Tirupattur, um sie dort am Straßenrand zu verkaufen. Tag für Tag.

Gute Geschäfte mit der Bootsvermietung

Fünf Frauen, darunter Devayani, haben sich vor zwei Jahren aus dem Blumen­geschäft zurückgezogen und sind seither mit der Bootsvermietung beschäftigt. Sie waren mehrfach zum obersten Verwaltungsbeamten des Distrikts Vellore gepilgert, dem "District Collector", und hatten ihn gebeten, den Bootsbetrieb übernehmen zu dürfen. "Das hatten vorher drei reiche Männer gemacht", erzählt Devayani. "Sie leben in Chennai und hatten Angestellte, die hier für sie arbeiteten."

Der Beamte war den Frauen und den Selbsthilfegruppen zwar wohlgesonnen, warnte sie jedoch, dies sei ein ernsthaftes Geschäft und es gehe um viel Geld. Devayani lacht: Ja, aber wir wussten, dass man damit viel verdienen kann. Und er hat den Vertrag uns gegeben. Die drei Männer waren wütend. Sie haben uns beschimpft und gesagt, das sei Männerarbeit. Wir haben gesagt, falls wir es nicht schaffen, könnt ihr ja weiter­machen. Sie waren so wütend, dass sie uns die Boote weggenommen haben. Drei Monate lang ging gar nichts. Dann haben wir neue Boote gekauft. Eines nach dem andern, zehn insgesamt. Wir nahmen auch gebrauchte, weil das billiger war. Alle zu­sammen haben einschließlich Transport sieben Lakhs gekostet." Das sind 700.000 Rupien, umgerechnet 12.300 Euro. Für diese stattliche Summe musste die Gruppe nicht einmal einen Kredit aufnehmen: "Wir konnten die Boote aus dem Gewinn bezahlen, den wir mit den Blumen gemacht haben." Nur ein einziges Mal in den fünf Jahren seit ihrem Bestehen nahm die Gruppe ein Darlehen in Anspruch. Drei Lakhs, also 300.000 Rupien, wurden benötigt, um die Pacht für einige Blumengrundstücke zu bezahlen. Der Kredit läuft über fünf Jahre. Die Hälfte ist bereits zurückgezahlt.

Auszug aus: Mein Wort zählt. Mikrokredite: Kleines Kapital – große Wirkung. Von Sabine Sütterlin. Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen VENRO (Hg.), Brandes & Apsel, 2007, Frankfurt a. M., ISBN 978-3-86099-727-7

Devanyani und ihre Kolleginnen werden vom South Central India Network for Development Alternatives ("SCINDeA") unterstützt, einem Netzwerk von 15 Nichtregierungsorganisationen in den indischen Bundesstaaten Tamil Nadu, Andhra Pradesh und Karnataka. Der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) fördert seit 1994 die integrierte ländliche Entwicklungsarbeit von SCINDeA. Das Netzwerk unterstützt nachhaltig wirtschaftende, politisch aktive und eigenständige Gemeinschaften unter Dalits, Fischern, Adivasis, Landlosen und Kleinstbauern und -bäuerinnen, so dass diese sich wirksamer für ihre Rechte einsetzen können.

(7536 Zeichen, 96 Zeilen, September 2007)