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Madagaskar: Die Krise als Chance begreifen

Hoffnungen und Realität auf einer Insel vor Madagaskar


Ohne Tourismus läuft hier überhaupt nichts. So die Aussage eines Lebensmittelhändlers in Sainte Marie, Madagaskar. Auf der kleinen Insel vor der Ostküste des Landes boomte der Tourismus viele Jahre lang. Überwiegend Rucksacktouristen haben die Insel in den vergangenen zwanzig Jahren besucht. In der Hauptsaison von Juli bis September tummeln sich vor der Küste von Sainte Marie Buckelwale, die Temperaturen liegen bei angenehmen 23°Celsius und es ist die Hauptreisezeit der Europäer.

Im Jahr 2002 brach in Madagaskar ein Bürgerkrieg aus. In der Folge kamen keine Touristen mehr nach Sainte Marie. Da viele Einwohner direkt oder indirekt vom Tourismus leben, bedeutete dies einen tiefen Einschnitt, zumal ein Großteil der Bevölkerung ohnehin ständig mit der Kunst zu überleben ringt. Die Saint Mariens haben die politische Krise überstanden, der Landesfrieden ist inzwischen wiederhergestellt.

Zeit sich zu fragen, wie es weitergehen soll. Die Entwicklung des Tourismus, sein Potenzial für die Verbesserung des Lebensstandards und die Probleme, die er mit sich bringt, waren Thema eines Workshops. Eine Entwicklungshelferin aus Freiburg, die die Insel seit Jahren regelmäßig besucht, richtete ihn mit Mitgliedern einer lokalen Aids-Hilfeorganisation aus.

Acht Mitglieder des Vereins bearbeiteten einen Tag lang das Thema "Nachhaltiger und sozialverträglicher Tourismus". Sie stellten sich folgende Fragen: Welche Probleme bringt der Tourismus auf  Sainte Marie und was sind unsere Spielregeln für die Zukunft?

In systematischer Gruppenarbeit und in lebhaften Diskussionen wurden Ängste, Hoffnungen, gute und schlechte Erfahrungen zusammengetragen. Filme zum Thema lieferten neue Anregungen und zeigten, dass auch andere Drittweltländer mit der Problematik zu kämpfen haben.

An erster Stelle steht die Menschenwürde

Die Themen wurden am Ende nach Priorität geordnet. Im Ergebnis rangiert, beindruckend für alle Beteiligten, an erster Stelle die Menschenwürde. Der Überlegenheitskomplex der Europäer und ihre Ignoranz gegenüber der lokalen Kultur schwächen das Selbstbewusstsein der Einwohner.

Sextourismus ist das nächste Problem. Die steigende Zahl von Touristen auf der Suche nach Minderjährigen sowie Homosexualität machen den Teilnehmern besonders große Sorgen. Die jungen Frauen wollen über den Weg der Prostitution einen weißen Ehemann finden. Die einheimischen Männer sind vielen nicht mehr gut genug. "Die Macht des Geldes überrollt unsere Werte“, so wurden die Auswirkungen auf das Sozialleben geschildert. Gewinnsucht und Kriminalität führen unter anderem zur Teilung von Familien und bedrohen die lange gepriesene Ruhe und Friedlichkeit der Insel.

Erde bedeutet Ernährung. Da die Bauern sich ihrer Tätigkeit schämen und das schnelle Geld lockt, werden landwirtschaftlich genutzte Flächen an Investoren verkauft. Die Menschen in Sainte Marie haben meist nicht gelernt, mit Geld zu wirtschaften, und so verschleudern sie den plötzlichen Gewinn innerhalb kurzer Zeit und verarmen oft völlig. Für diejenigen, die mit den verfügbaren Mitteln ein kleines Unternehmen gründeten, sah es bisher auch nicht rosig aus. Die Zusammenarbeit lokaler und externer Unternehmer leidet unter der Ungleichheit der Mittel, unter Neid und mangelndem Respekt.

Die ökologischen Aspekte und die öffentliche Sicherheit rangieren schließlich auf den letzten Plätzen. Die Beschädigung des Korallenriffs und der Verlust der traditionellen ökologischen Kenntnisse, die das ökologische Gleichgewicht auf der Tropeninsel bisher sicherten, wurden dabei genannt. Sandige Zufahrtstraßen zu den Hotels bedecken die anliegenden Dörfer mit einer für Mensch und Material gefährlichen Staubschicht. Die Medikamente gegen Erkrankungen der Atemwege sind den lokalen Krankenstationen längst ausgegangen.

Der Tourismus ist tot, es lebe der Tourismus! Kaum war die politische Krise Ende 2002 beendet, so reisten auch schon die ersten Spekulanten an. Politiker machten sich für den Ausbau des Tourismus auf Sainte Marie stark, betrieben damit ihre Wahlkampagnen, schnelle Entwicklung ist das neue Schlagwort. Den Einwohnern von Sainte Marie droht mehr denn je die Gefahr, von der weiteren Entwicklung des Tourismus überrollt zu werden.

Die Krise als Chance zu begreifen um nachzudenken, das bisher gewesene kritisch zu betrachten und nach Wegen zu suchen, um die Zukunft zu gestalten, dafür müssen die Saint Mariens selbst Raum schaffen. Der Workshop war ein bescheidener Anfang. Den Teilnehmern wurde bewusst, in welcher Situation sie sich befinden und dass sie ganz konkrete Ängste und Hoffnungen bezüglich der weiteren Entwicklung des Tourismus auf Sainte Marie haben. Jetzt muss es darum gehen, Handlungsstrategien zu entwickeln und eine Institution zu schaffen, die die Interessen der Bevölkerung im Kampf um den Fortschritt vertritt.

Alltägliche Sorgen

Aussagen von Einwohnern auf Sainte Marie, die Silke von Kraewel zusammentrug. Dabei kamen Ärzte ebenso zu Wort wie Reisbauern, Fischer und örtliche Unternehmer:

Tourismus und Infrastruktur

Seit die Hauptstraße im Süden im Jahr 2002 vom Verband der Tourismusunternehmer neu gedeckt wurde, ist sie mit Sand bedeckt. Die vorbeifahrenden Fahrzeuge wirbeln sehr viel Staub auf, der direkt in die Häuser eindringt. Er zerstört z.B. alle elektrischen Geräte.

80 Prozent der Kranken, die zum Arzt kommen, leiden an Erkrankungen der Atemwege. Das liegt an dem Staub.

Manche der Hotels mit großen Grundstücken befeuchten die Straße mit Meerwasser. Die Anwohner gaben das aber schnell wieder auf. Denn wenn der Nachbar nicht das Gleiche tut, nützt die Befeuchtung nichts. Die Staubwolken kommen trotzdem.

Tourismus und Ressourcen

In den letzten Jahren hatten selbst die Hotels kein Trinkwasser mehr, obwohl diese besonders tiefe Brunnen haben.

Die Wälder werden immer stärker zerstückelt und abgeholzt, um Platz für Hotels und Straßen zu schaffen. Das bemerken vor allem die Fremdenführer, die inzwischen Mühe haben, ihren Gästen seltene Tiere und Pflanzen zu zeigen.

Tourismus und Menschenwürde

Die Leute mögen es nicht, wenn man Fotos macht, die ihre Armut zeigen. Aber das sind die Motive, die die Touristen suchen.

Die Hotelangestellten befinden sich in einem großen Konflikt, sobald die Landwirtschaft mehr Arbeitseinsatz erfordert, z.B. während der Nelken-Ernte. Jeder besitzt ein paar, um die Ahnen, die die Bäume einst pflanzten, zu ehren. Die europäischen Hotelbesitzer berücksichtigen das nicht.

Wirtschaft und Handel

Seit der politischen Krise im Jahr 2002 respektieren die europäischen Hotelbesitzer die einheimischen Kleinunternehmer nicht mehr. Sie versuchen, die Gäste in ihren Hotels zu halten, um so viel wie möglich an ihnen zu verdienen. Man fragt sich, ob sich dieses Verhalten ändern wird, wenn die Geschäfte für die Hoteliers wieder besser laufen.

Den Leuten, die selbstgefertigte Produkte am Strand verkaufen, wird in einigen Hotels der Zutritt zum Hotelstrand verboten, obwohl es keine Privatstrände gibt. Die Verkäufer betreiben ihr Geschäft lieber am Strand als in einem kleinen Laden. Das kostet sie nichts und sie kommen in der Gegend herum.

Die Touristen bestimmen den Preis. Heute bezahlt ein Tourist aus falschem Mitleid einen unsinnigen Preis für ein Produkt. Morgen wird der Verkäufer beschimpft, weil er bei einem anderen Touristen den gleichen Preis verlangt.

Die Touristen akzeptieren problemlos hohe Preise für lokale Produkte in den Hotelboutiquen. Mit den einheimischen Händlern aber feilschen sie und schüchtern sie zudem noch ein.

Prostitution und AIDS

Die von hier stammenden Prostituierten werden respektiert. Sie verdienen Geld und leben in Wohlstand. Sie schämen sich auch nicht für ihre Arbeit. Als Mann kann man ja wählen, mit welcher Art von Frau man verheiratet sein will. Die Prostituierten haben auch Kunden unter den einheimischen Männern, aber während der politischen Krise 2002 mussten selbst sie zum Fischfang gehen!

Die meisten Prostituierten kommen aus der Provinzhauptstadt und bleiben nur vorübergehend hier, in der Hochsaison und zu bestimmten Anlässen. Man hat Angst, dass sie Krankheiten mitbringen. Aber die Mitarbeiter des AIDS-Projektes haben keinen Einfluss auf sie. Es ist jedoch interessant, sie anzuschauen. Sie sind besser zurechtgemacht als unsere Prostituierten.

AIDS ist gefährlich, hat man uns gesagt. Aber was will man machen? Die Leute sind es eben gewohnt, Abwechslung zu suchen. Viele glauben nicht wirklich, dass diese Krankheit existiert. Oder sie hoffen, dass es sie nicht trifft.

Es gab einen AIDS-Todesfall hier, ein junger Mann. Als er krank war, hat man ihn gemieden.

Man hat uns schon so viel über AIDS gesagt, wir können es schon nicht mehr hören!

AIDS ist eine Sache der Europäer und der Afrikaner. Gott schützt die Madagassen vor dieser Krankheit.

(8.801 Anschläge, 129 Zeilen, Dezember 2003)