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Indien: "Keine Vertreibung im Namen des Tourismus!"

Kampf gegen den Narmada-Staudamm in Indien


Sein Name ist zu einem Synonym für Enteignung und Vertreibung der einheimischen Bevölkerung geworden: der Sardar Sarovar-Staudamm im indischen Bundesstaat Gujarat. Nun soll er zu einer Touristen-Attraktion werden - so will es die Regierung. Und wieder sollen die Menschen weichen, diesmal nicht dem Narmada-Strom, sondern den Touristenströmen aus den Städten wie Mumbai (Bombay), Ahmedabad und Vadodara (Baroda).

Für den Bau des Staudamms und des Narmada-Hauptkanals wurden seit Anfang der 1960er Jahre große Teile der indigenen Bevölkerung (Adivasis) entlang des Narmada-Flusses in den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Gujarat und Maharashtra "im öffentlichen Interesse" enteignet und vertrieben. Bereits seit über zwei Jahrzehnten kämpfen sie um ihre Rechte, gegen Druck und Einschüchterungen, unterstützt von der "Narmada Bachao Andolan" (NBA), der "Bewegung zur Rettung der Narmada". (Wie viele Berge sind in Indien auch zahlreiche Flüsse - wie die Narmada - weiblich und heilig.)

"Wird der Staudamm-Tourismus bei Kevadia dazu beitragen, die Touristen über den Kampf der Adivasis um ihr Land und ihre Lebensgrundlage aufzuklären, über ihre Kultur und Geschichte, die im Wasser unterging?", fragt NBA-Aktivistin Dipti Bhatnagar und bezweifelt dies. Zum 20-jährigen Bestehen der Narmada Bachao Andolan ist der Widerstand der Menschen aus den Dörfern ungebrochen. Mit dem Slogan "110 Meter sind genug!", demonstrierten sie auf einer Großveranstaltung Ende November in Badwani (Madhya Pradesh) gegen eine weitere Erhöhung des Staudamms und gegen weitere Vertreibung.

Zwar seien Familien, deren Land durch die Stauseen überschwemmt wurde, als "vom Projekt betroffene Personen" anerkannt worden, mit dem entsprechenden Recht auf Entschädigung"Land für Land". Doch die Erfahrungen mit den bisherigen Umsiedlungsprogrammen haben deutlich gemacht, dass nicht genug Land von entsprechender Qualität zur Verfügung steht, um den Vertriebenen eine ausreichende Lebensgrundlage zu bieten. Viele der bereits vertriebenen Familien würden bis heute auf angemessene Entschädigung warten.

Außerdem wurden nicht allen tatsächlich Betroffenen die gleichen Rechte zugestanden. Nicht als vom Projekt betroffen anerkannt wurden bislang die Familien aus sechs Dörfern nördlich des Staudamms. Sie wurden für den Bau der "Kevadia Colony" enteignet, einer Siedlung für die Mitarbeiter des Staudammprojektes. Mit der Enteignung verloren sie die Rechte an ihrem hauptsächlich landwirtschaftlich genutzten Grundbesitz - ihrer Hauptlebensgrundlage. Sie erhielten eine minimale Entschädigung, ohne Anspruch auf Umsiedlung oder Recht auf neues Land. Dank ihres unermüdlichen Widerstandes sind viele der Familien bislang nicht vertrieben worden. Sie haben teilweise sogar ihr angestammtes Land weiter bewirtschaftet.

Doch nun droht ihren durch den Tourismus neue Gefahr. Das Land, das touristisch "entwickelt" werden soll, ist rechtlich in Händen der Sardar Sarovar Narmada Nigam Ltd. (SSNNL), eines Unternehmens des Bundesstaates Gujarat, das den Sardar Sarovar-Staudamm baut. Wenn der Tourismus Fuß fasst, droht den rund 900 Familien in den sechs Dörfern (insgesamt über 4.500 Personen) die endgültige Vertreibung.

"Eine Rupie säen, einen Dollar ernten" will der Bundesstaat Gujarat laut seiner industriepolitischen Leitlinien. Mit dem Tourismus am Narmada-Staudamm könnte diese Rechnung aufgehen. Im vergangenen Jahr besuchten bereits rund 470.000 indische Touristen den Damm. An Wochenenden lag die Besucherzahl bei durchschnittlich jeweils 5.000-10.000, unter der Woche bei jeweils 500 bis 2.000 pro Tag. Als Attraktion dienen bisher allein Aussichtspunkte mit Blick auf den Staudamm.

"Das Problem ist, dass bislang kaum touristische Infrastruktur zur Verfügung steht", meint SSNNL-Tourismusdirektor V.C. Patel - und will das nun ändern. Derzeit prüft das Unternehmen verschiedene Tourismuspläne, darunter einen Mehrphasenplan der "Kevadia Area Development Authority", der unter anderem Picknickplätze, Gesundheitstourismus, Wasser- und Abenteuersport vorsieht. "Das Gebiet wird für den Tourismus entwickelt. Deshalb wird die Planung den Bedürfnissen der Touristen Rechnung tragen", sagt Patel. Allerdings nicht am und auf dem Hauptstausee, sondern entlang kleinerer Seen unterhalb der Staumauer. Aus einem sei bereits eine Genehmigung zur Umsiedlung der Krokodile eingeholt worden. Ein anderer Plan sieht nach Presseberichten "Ökotourismus" mit Wasservergnügungsparks, Golfplätzen, Hotels und Restaurants auf einer Fläche von 1.400 Hektar vor.

"Doch 'öko' heißt: ökonomisch", kritisiert die berühmte NBA-Aktivistin Medha Patkar. "Das Projekt dient der Privatwirtschaft und keineswegs dem öffentlichen Interesse, aufgrund dessen die Menschen damals enteignet wurden." Ihre Forderung deshalb: Anerkennung der Betroffenen als "vom Projekt betroffene Personen" mit entsprechenden Rechten auf Entschädigung, Rückgabe des nicht für das Sardar Sarovar-Projekt genutzten Landes an die ursprünglichen Eigentümer und vor allem: "Keine Vertreibung im Namen des Tourismus!"

Buchtipp:

Sangvai, Sanjay: The River and Life - People's Struggle in the Narmada Valley,Earthcare Books, Kolkata 2002, 244 S., ISBN 81-85861-13-7

Bestellmöglichkeit: earthcarebooks@vsnl.com. Weitere Infos und Auszüge aus dem Buch im Internet unter www.narmada.org/resources/books/RiverAndLife.html

Der Narmada Valley Development Plan (NVDP) sieht entlang der 1.312 km langen Narmada und ihrer Nebenflüsse den Bau von 30 großen, 135 mittleren und 3000 kleinen Staudämmen vor. Die Projekte befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung. Das Sardar Sarovar-Projekt (SSP) und das Narmada Sagar Projekt (NSP) sind die größten.Der Sardar Sarovar-Staudamm bei Kevadia in Gujarat ist 110 m hoch und 1.210 m breit, der Stausee 214 km lang und im Durchschnitt 1,77 km (maximal 16,1 km) breit. Rund 200.000 Menschen sind allein durch das Sardar Sarovar-Projekt von Vertreibung betroffen, mehr als die Hälfte von ihnen Adivasis.Karte aus Sangvai, Sanjay: The River and Life

(6.064 Anschläge, 86 Zeilen, Dezember 2005)