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Ein Volk wehrt sich

Der Fall: Polareskimo versus dänischer Staat


Polareskimo, das sind die nördlichsten Bewohner der Welt. Wenn wir sie "Eskimo" nennen und nicht "Inuit", dann deshalb, weil sie uns dadurch geläufiger sind, und sie sich selbst vor Fremden als "Eskimo" bezeichnen.

1811 hielten sie die Segelschiffe des Engländers John Ross für Vögel. Denn sie glaubten, sie seien die einzigen Menschen der Welt. Über Jahrhunderte hinweg hatten die Polareskimo in Nordwestgrönland unberührt gelebt, ohne Kontakt mit ihren Nachbargruppen in Kanada oder Westgrönland. Weil sie im Jahreslauf überwiegend den Winter erlebten und ein gefrorenes Meer, hatten sie sogar einen wichtigen Teil ihrer Kultur fast vergessen - den Kajak.

Als der Engländer John Ross sie "entdeckte", fuhren die Polareskimo auf Hundeschlitten und jagten mit Pfeil und Bogen. Bald kamen Walfänger und Expeditionen zu Hauf. Der Amerikaner Robert Edwin Peary benutzte die Polareskimo, um mit ihrer Hilfe 1909 den Nordpol zu erreichen. Selbstherrlich telegrafierte er daraufhin nach New York: "Stars and Stripes are nailed on the pole."

Knud Rasmussen und Peter Freuchen wurden Freunde der Eskimo, sie gründeten 1910 eine Handelsstation und sorgten dafür, daß Nordgrönland später dem dänischen Staat zugesprochen wurde und nicht den USA. Auch kümmerten sie sich darum, daß die Polareskimo fortan Holz, Waffen und Munition erhielten, Dinge, von denen sie schon durch die Walfänger und Peary abhängig geworden waren. Auch mit Alkohol wurden sie nun "versorgt", für den die Eskimo eine Vorliebe entdeckten.

Bald erschienen die Missionare. Mit ihnen verschwand das Schamanentum, nicht aber die Jägerkultur. Die fremden Einflüsse vermochten die Gesellschaft der Polareskimo zu verändern, nicht aber zu zerstören, wie es mit anderen Eskimogruppen geschah.

Die derzeit etwa neunhundert Polareskimo sind die letzten weltweit, bei denen manche noch ein richtiges Eskimoleben führen und täglich zur Jagd hinaus ziehen, weil sie ihnen die einzige Nahrungs- und Erwerbsgrundlage bietet.

Wir finden Gemeinschaften, in denen auch die alten Regeln noch befolgt werden, wie früher, als selbst in schweren Zeiten jedem Mitglied der Gemeinschaft eine Überlebenschance geboten war - Regeln, die zum Teilen mit den anderen verpflichten und verhindern, daß sich die leistungsfähigeren Jäger von den schwächeren absetzen.

"Nirgendwo", schrieb Knud Rasmussen, "lebt man wie hier nach einem so einfachen und praktischen Kommunismus, der gleiche Rechte und Chancen für alle gibt."

So einfach lauteten die Regeln

Ein Verständnis für Land-, Grund-, oder Hausbesitz, für Diebstahl oder dergleichen hatten die Eskimo nicht. Denn wo das Land unendlich groß ist und es der Menschen so wenige sind, gibt es keinen Anlaß zur "Territorialität". Dort gibt es keinen Krieg, keinen Stacheldraht und keinen Streit um Besitz.

Selbst ein Iglu (Torfhaus) gehört dir nämlich nur solange, wie du ihn mit deiner Familie bewohnst. Wenn du ausziehst, kann jeder andere einziehen.

Wo jeder nur so viel besitzt, wie auch der andere hat, wird Diebstahl sinnlos. Wenn du einen Schlitten besitzt, warum solltest du dir einen zweiten bauen? Du kannst doch nicht gleichzeitig auf zwei Schlitten fahren. Wenn du trotzdem einen zweiten Schlitten baust, um mehr zu besitzen als die anderen, kannst du damit nicht prahlen, sondern erregst nur Ärgernis. So einfach lauteten die Regeln - damals. Und viele gelten heute noch.

Wir dagegen folgen anderen Regeln, und für sie haben die Polareskimo oftmals nicht mehr als nur ein Kopfschütteln übrig. Daher fühlen sie sich unserer Kultur gegenüber oft überlegen, nennen uns abfällig "kavtdluna" - Fremde! Verständlich, denn wann sehen sie mal einen Fremden, der selber etwas für seinen Nahrungserwerb unternähme, zum Beispiel eine Robbe finge, die man essen kann?

Sie beobachten voller Befremden, wie Europäer einander Befehle erteilen, und daß diese auch befolgt werden. Für jemanden, der nur die Gleichheit kennt, völlig unbegreiflich. Und auch die besten "Moonboots", angefertigt mit allem was moderne Technologie an isolierenden Materialien aufzuweisen hat, können die "kamikker", die ursprünglichen Fellstiefel der Eskimo, an Funktionalität kaum schlagen. Daß wir den Zucker brachten, Patronen herstellen, Radios, Kleidung, Zelte …, woher dies alles kommt, wie ihre Herstellung geschieht, interessiert sie nicht. Es ist eben da und auch ganz nützlich. Es ist der Selbststolz dieser Menschen, der sie über viele Jahre massiver Beeinflussung durch unsere Welt vor einer Auflösung ihrer Kultur bewahrte. Erst seit kurzem zeichnet sich eine dramatische Trendwende ab - seit 1997 die Alkohol-Rationierung aufgehoben wurde.

Am Rande des Dritten Weltkrieges

Schon früher wurden die Polareskimo auf andere Weise Opfer - sie wurden Opfer des Kalten Krieges. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelte man die Polareskimo von ihren besten Fangplätzen zwangsweise in andere Teile des Thule-Distriktes um.

Die USA errichteten in der North Star Bay einen Luftstützpunkt, mit dem Einverständnis der dänischen Regierung, die damals bereits die Souveränität über Nordgrönland ausübte.

Thule Airbase - eine Stadt mitten in der Arktis, strategisch von ungeheurem Wert. Via Nordpol ließ sich von Thule jeder Punkt der Sowjetunion, Japans und Zentralasiens mit Interkontinentalraketen erreichen. Riesige unterirdische Hangars entstanden, zahlreiche Raketenabschußrampen, die von oben kaum als solche erkennbar sind.

Thule Airbase war Teil des US-amerikanischen Raketenfrühwarnsystems. Mit einer hohen Radaranlage ließ sich von hier aus in der Vorsatellitenzeit der Luftraum Rußlands bis zur Ukraine überwachen.

Die B-52 Bomber, die in den sechziger Jahren rund um die Uhr in der Luft waren, um einen nuklearen Erstschlag abzuwehren, wurden unter anderem hier betankt und gewartet. Während des Koreakrieges flog man via Pol die verletzten US-Soldaten ein, um sie hier zu versorgen und die Verluste vor der Heimat zu verbergen.

Wie nahe die Welt damals am Rande des Dritten Weltkrieges stand und daß die US-Amerikaner während der Ära Kennedy einen Nuklearkrieg einkalkulierten, dafür steht bis heute ein häßliches Symbol: Es heißt Camp Century.

Camp Century wurde zu Zeiten der Kubakrise als eine kleine Stadt tief im Inlandeis angelegt. Versorgt durch einen eigenen Atomreaktor, sollte in dieser Stadt ein Querschnitt der USA-Bevölkerung den nuklearen Holocaust überleben, vom Zeitungsjungen bis zum Manager, vom Farmer bis zum Wissenschaftler. Vertreter aller Berufsgruppen wurden hier zusammen gezogen.

Es passierten auch "Mißgeschicke" in Thule, so der "Verlust" zweier Wasserstoffbomben, die das Meer vor Thule Airbase verseuchten. Die Militärs ließen damals das Eis abtragen und mit Schiffen abtransportieren. Die Helfer erkrankten Jahre später an Leukämie und, falls sie überlebten, kämpfen bis heute um Anerkennung und Schadenersatz. (s. auch TW 7, S. 4)

Dänemark untersagte den USA Ende der sechziger Jahre die weitere Stationierung von Raketen. Wo zeitweise mehrere Tausend Soldaten gelebt hatten, leben heute noch ein paar hundert. Thule Airbase ist aber auch nach dem Kalten Krieg von militärischer Bedeutung geblieben. Der Zugang zum Stützpunkt ist heute strenger denn je reglementiert. Aber wegen des Flugplatzes ist der Transfer unumgänglich, sofern man aus dem Süden kommend ins zivile Thule (Qaanaaq) der Eskimo gelangen will.

Was sich heute auf dem Stützpunkt verbirgt, erfährt niemand. Es sickerte durch, daß hochgiftiger Abfall, den die US-Militärs in den fünfziger und sechziger Jahren "entsorgten", durch das Abschmelzen des Eises inzwischen zutage tritt. Früher oder später wird das strahlende Material ins Meer gelangen. Die Eskimo fürchten sich. Doch nur wenige von ihnen wissen, was wirklich vor sich geht und erahnen die Konsequenzen.

Die Polareskimo empfanden es als Unrecht, daß man sie 1953 aus der North Star Bay vertrieben hat. Sieben Jahre nach dieser erzwungenen Umsiedlung forderten sie vor Gericht Schadensersatz. Zum Zeitpunkt der Vertreibung gab es allerdings noch keine Rechtsregeln, die einen nicht-ökonomischen Schaden berücksichtigten.

Klagen - nach europäischer Denkweise

So konnten die Eskimo zunächst nur anführen, daß durch die Umsiedlung ihre Jagdchancen geringer wurden, und sie konnten - nach europäischer Denkweise - ihren Anspruch als rechtmäßige Landeigentümer anmelden.

Erst 1999, sechsundvierzig Jahre nach ihrer Zwangsumsiedlung (und nach 21 Verhandlungen), erzielten die Kläger zumindest einen Teilerfolg. Ihr dänischer Anwalt Carl Nielsen hatte ursprünglich 25 Millionen Kronen kollektiven Schadensersatz plus 250 000 Kronen für jeden Einwohner gefordert, der die Umsiedlung erleiden mußte und heute noch am Leben ist. Das Östlliche Landgericht sah es dagegen als nicht bewiesen an, daß der Niedergang der Jagd eine solch hohe Summe als Ausgleich erforderte. Es erkannte lediglich auf einen kollektiven Schadenersatz in Höhe von 500 000 Kronen. Alle früheren Bewohner von Thule, die bei der Zwangsumsiedlung älter als achtzehn Jahre waren, sollten je 25 000 Kronen erhalten, die jüngeren jeweils 15 000 Kronen.

Gleichzeitig wies das Landgericht den Anspruch der Eskimo auf ihr Territorium zurück, d. h., es enteignete sie nachträglich. Dennoch befanden die Richter, daß der Staat die Kränkung, die er als Kolonialmacht einem isolierten Volk zugefügt hat, gemäß allgemeiner Rechtsprinzipien wiedergutmachen müsse.

Wenige Stunden nach dem Urteilsspruch traf ein Fax des damaligen dänischen Staatsministers Poul Nyrup Rasmussen ein: Die dänische Regierung sei zufrieden, daß das Gericht zu diesem historischen Ereignis nun Klarheit geschaffen habe. Sie wolle keine Initiative ergreifen, das Urteil vor dem höchsten Gericht anzufechten.

1997 war der höchste Beamte des dänischen Staates zu den Eskimo nach Qaanaaq geflogen, hatte sich dort jedoch geweigert, sich für das Unrecht im Namen Dänemarks zu entschuldigen. Er versprach den Eskimo stattdessen einen eigenen Flugplatz, denn auch sie fallen unter die Restriktionen der Airbase, wenn sie ihr Gebiet verlassen wollen. Der Grund übrigens, weshalb bisher auch nur wenige Touristen in das zivile Thule gelangten. Wer (zwangsläufig) Thule Airbase passieren mußte, um nach Nordgrönland zu gelangen, stellte seinen Antrag auf Erlaubnis beim dänischen Außenministerium, benötigte das Einverständnis der Amerikaner. Genauso wie die Eskimo, sofern sie nur ihre Kinder im Süden Grönlands besuchen wollten. In Thule Airbase wurden dann die Grönlander stets von den Touristen getrennt, die einen in einer Baracke untergebracht, die anderen in einem komfortablen Gästehaus. Eine Diskriminierung, für die Betroffene wenig Verständnis aufbrachten.

Der Entschädigungsbetrag sei zu niedrig, beklagte Ussarqak Qujaakitsoq als Vertreter der Polareskimo den Richterspruch. Dennoch fasse er das Urteil zunächst positiv auf. Der entscheidende Punkt sei, daß der dänische Staat endlich verurteilt worden sei - wegen eines Übergriffs gegen die Polareskimo, den man nun auch amtlich als "Zwangsumsiedlung" anerkannt habe.

Fazit: Wer als Ureinwohner Unrecht erleidet, der braucht schon mal 46 Jahre, bis es als solches anerkannt wird. Und er wird am Ende mit Almosen abgefunden.

Und warum dies alles? Weil "Zivilisierte" unsere Welt vor ein paar Jahrzehnten bis an den Rand des Abgrundes führten.

(11.320 Anschläge, 150 Zeilen, Dezember 2001)