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Die Lebenswelt Jugendlicher in touristischen Bergregionen

Ein Vergleich zwischen Kids aus den Alpen in Österreich und dem Himalaya in Nepal


"Also, ich darf nicht über Touristen meckern. Wir leben von ihnen, ganz einfach." (Saalbacher Jugendliche, 18)

"Im Winter ist einfach viel mehr los und man lernt endlich auch mal andere Leute kennen." (17jährige Schülerin)

"Gäste denken sich nichts dabei, wenn Weihnachten ist. Wenn wir beim Baum stehen und 'Stille Nacht' singen, und fünfmal jemand an der Tür klopft und rein will..." (Angestellte im Tourismus, 20)

"Ich war bereits in Neuseeland, Amerika, in Australien, also eigentlich schon ziemlich viel unterwegs. In die Karibik möchte ich gerne einmal." (Sohn eines Hotelbesitzers, 15)

"Franzosen brauchen viel Leitungswasser". (Kellnerin, 17)

"Touristen sind Menschen wie Du und ich, sie machen Urlaub und fahren dann wieder nach Hause". (Oberpinzgauer Schüler, 16)

Die Welt des Tourismus ist eine bunte, - viel abwechslungsreicher und aufregender, als die des gewöhnlichen Dorfes oder der Kleinstadt in den Alpen. Vor den Touristen regulierten die natürlichen Jahreszeiten den Rhythmus der Menschen, bestimmten Arbeits- und Ruhezeiten, sie selbst hatten noch Einfluß auf das Tempo der Entwicklung. Mit dem Eintritt in die Moderne, mit der Untergliederung der Welt in Auto- und Landebahnen, dem Aufbau dessen, was heute Freizeitindustrie genannt wird, mit dem wachsenden Wohlstand der städtischen Bevölkerung und der zunehmenden Unwirtlichkeit ihrer Lebensräume, mit der Verlängerung von Urlaub und Freizeit für Arbeiter und Angestellte und der bäuerlichen Einsicht, daß sich Berglandwirtschaft in höheren Lagen nicht mehr lohnt, nicht mehr zum Überleben ausreicht, - mit all diesen Phänomenen war jene Generation konfrontiert, die heute als "Tourismuspioniere" bewundert, deren Leistungen aber zusehends hinterfragt werden. Die Folge-Generationen der Pioniere sind Dienstleister und sie haben den Alpentourismus zu dem gemacht, was er heute ist: Eine Industrie, vielerorts profitabel, aber auch mit Verlierern und unerwünschten Konsequenzen. Für die Jugendlichen bildet er eine Selbstverständlichkeit, all seine Façetten sind Bestandteile ihres Lebens. Kein Wunder, daß sie eine sehr pragmatische Sichtweise haben, seine Nachteile in Kauf nehmen und seine Vorteile nutzen, so gut es eben geht.

Die guten und die schlechten Seiten

Die Probleme der Jugendlichen in den Berggebieten haben die Soziologen und Tourismusforscher aus den Universitätsstädten bislang wenig interessiert. Die im folgenden zusammengefaßten Aussagen, Erfahrungen und Befunde beziehen sich auf zwei österreichische Untersuchungen, die sich konkret mit der Lebenswelt der Bergland-Jugend auseinandersetzen. Der Tourismus hat darin einen prominenten Platz. Die Daten beziehen sich auf empirische Studien, die im Pinzgau (Bezirk Zell am See) und im Pongau (Bezirk St. Johann, beide Bundesland Salzburg, Österreich) sowie - zum Kontrast - im Mount Everest Nationalpark, in der Region Khumbu (Nepal), unter jungen Sherpas durchgeführt wurden.

Pinzgau und Pongau gehören zu den schönsten, reichsten und intensivsten Tourismusgebieten Österreichs. An die 40 Prozent der Tourismuseinnahmen des Bundeslandes Salzburg entfallen allein auf den Pinzgau. Die Zahl an Gewerbeberechtigungen in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft ist in diesen beiden Bezirken am höchsten. Die Kids in dieser nach wie vor ländlich geprägten Region sind aber längst keine "Landeier" mehr. In den Köpfen sind sie bereits zu Stadtmenschen geworden. Durch Medien, moderne Kommunikationstechniken, eine Wirtschafts-entwicklung, die zu Wohlstand und quasi industriegesellschaftlichen Lebensformen geführt hat, und nicht zuletzt durch die Interaktion mit Touristen, zumeist Städter aus dem wohlhabenden Teil Europas, erfolgte im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Urbanisierung der Landbevölkerung hinsichtlich ihrer Lebensformen und -ansprüche. Die Jugendlichen als "early adopters" jeglicher Innovation wurden zumindest im Freizeitsektor zu "agents of change", die Interessantes und Verrücktes als erste aufnahmen und praktizierten. So gehören im Nationalpark Hohe Tauern seit einigen Jahren auch Beach Volleyball oder Inline-skaten zu trendigen Jugendsportarten - unbeschadet aller behindernder topographischer Gegebenheiten.

Dem Tourismus, den sie als einen der Garanten für weiteren Wohlstand einschätzen, stehen die Jugendlichen positiv gegenüber, ohne sich auf ihn in der Gesamtheit seiner Komplexität einzulassen. Er schafft Einkommen und Arbeitsplätze, aber trotz Jugendarbeitslosigkeit in den beiden Bezirken bleiben viele Lehrstellen im Tourismus- und Gastgewerbe offen. Die Lust auf Koch und Kellnerin hält sich in Grenzen, die Umbenennung in "Restaurantfachmann/-frau" wird das schlechte Image und die teilweise unzumutbaren Arbeitsbedingungen kaum ausgleichen. Die unter Jugendlichen weitverbreitete Lebenseinstellung "Zuerst der Spaß, dann das Vergnügen" läßt sich nur mit sehr wenigen Tourismusberufen fusionieren. Freundschaften kommen zu kurz, in der Saison steigt die Belastung und das Toleranzniveau gegenüber der Kollegenschaft sinkt. Psychische Störungen und Krankheiten erfassen nur die Robusten erst nach Saisonende. Je stärker massentouristische Phänomene auftreten, desto unzufriedener zeigt man sich mit der ausgeübten Tätigkeit. Jugendliche, die nicht im elterlichen Betrieb tätig sind, sehen nur geringe Aufstiegs- und Karrierechancen, sind mit der Bezahlung und ihrer Tätigkeit oft unzufrieden, bleiben aber in der Branche aus Mangel an Alternativen.

Praktisch kein Jugendlicher in den beiden Bezirken hat nicht irgendeinen Kontakt mit Touristen. Den meisten ist das recht, lediglich in manchen Orten scheinen Belastungsgrenzen bereits erreicht. Nur rund 10 Prozent der Pongauer Jugendlichen meinen, es gebe bereits genug Touristen in den Dörfern, auf den Pisten und auf den Straßen. In Orten mit touristischer Monostruktur wie Flachau sagen das 40 Prozent, aber die Hälfte davon meint nur die Hauptsaison. Zwei Drittel der Jugendlichen in den sechs untersuchten Pongauer Gemeinden sind der Meinung, es wären durchaus mehr Touristen zu verkraften, denn erst durch sie käme Leben in die Orte, und sie selbst könnten die touristische Infrastruktur mitbenutzen. Die Burschen schätzen vor allem die Kurzkontakte zu skandinavischen Ski-Amazonen, und auch die heimischen Mädchen pflegen den Diskurs mit den großen Blonden aus dem Norden. Damit ließe sich auch die Behauptung, der Tourismus fördere die interkulturelle Kommunikation, empirisch bestätigen.

Ein kleiner Teil der Jugendlichen fühlt sich gegenüber den Gästen allerdings benachteiligt. Die Bürgermeister und andere Entscheidungsträger würden nach der Pfeife der Gäste tanzen und deren Bedürfnissen zuerst nachkommen. Während der Saison bliebe für sie nur eine zugige Ecke in der Gaststube, obwohl sie ihren nicht unerheblichen Alkoholkonsum über das ganze Jahr verteilen, also "Ganzjahres-Stammgäste" seien. Je nach Ortschaft meint bis zu einem Drittel der befragten Jugendlichen, daß der Tourismus dazu beitrage, das Dorfleben und die Landschaft zu zerstören. Er verursache Verkehrsprobleme und das Brauchtum würde nur noch für die Gäste inszeniert, verkomme zur Musikantenstadl-Folklore. Der Tourismus wird auch als Umweltzerstörer gesehen. Seitdem der Ausbau neuer Skigebiete eingeschränkt wurde und die schneearmen Winter die Beschneiungsanlagen auch in höheren Lagen wirtschaftlich rechtfertigen, ist das ökologische Argument offenbar kein massiver Kritikpunkt mehr.

Ähnlichkeiten mit den "Kids of Khumbu"

Etwa gleichzeitig mit dem Aufbau des Tourismus in den Alpen zu einem wichtigen Wirtschafts- und Modernisierungsfaktor begann auch die Eroberung der fernen Gipfel im Himalaya. In den fünfziger Jahren wurden die meisten Achttausender erstbestiegen und im Gefolge der Expeditionen begann ein bescheidener Trekkingtourismus. Dem kleinen Volk der Sherpa, das südlich des Mount Everest (in Sherpani: Chomulungma) siedelt, hat dieser Tourismus Wohlstand gebracht. Als Träger und Führer der "Sahibs" (Herren) wurden die "Tigers of the Snow" weltberühmt. Der Tourismus kam gerade rechtzeitig, denn die Chinesen hatten Tibet annektiert und den Handel über die Himalaya-Pässe mit dem Süden, ein wichtiges Standbein der Sherpa-Wirtschaft, unterbunden. Neben dem Kartoffelanbau setzten die Sherpas von nun an auf die Touristen. 1976 wurde das Gebiet zum "Sagarmatha Nationalpark" (ein neu erfundener, nepalischer Name für "Mount Everest") erklärt und in der Folge zur zweitwichtigsten Trekkingdestination Nepals. Seither ist der Lebensrhythmus der Menschen stärker am Tourismus als am Rhythmus der Jahreszeiten und der religiösen Feste orientiert, wenngleich diese - sofern nicht außerhalb der Tourismussaison - bereits als touristische Attraktionen in das Angebot integriert wurden.

Der Jugend im straßenlosen Khumbu eröffnen sich neben dem Tourismus keine beruflichen Perspektiven, sieht man von einigen wenigen Dienstleistungen (Gesundheit, Sicherheit, Nationalparkverwaltung etc.) ab. Es zeichnet sich ab, daß junge Sherpas, die einmal aus ihrem Dorf weggingen, aus der Stadt oder aus dem Ausland nur dann in ihre unmittelbare Heimat zurückkehren, um die Lodge ihrer Eltern zu übernehmen. Für die Sherpa-Jugendlichen, die in der Hauptstadt Kathmandu aufwachsen, bieten die Khumbu-Dörfer keine Perspektive, weder beruflich, noch genügen sie den Ansprüchen an gewohnte Annehmlichkeiten des Stadtlebens. Für die Mädchen stellt sich dieses Problem weniger häufig, weil sie nicht im selben Ausmaß in die Stadt ziehen. Sie sind in die flächengreifende Modernisierung weitaus weniger eingebunden, da sie im Regelfall traditionsbewußter erzogen wurden und leben, weniger Kontakt mit Ausländern haben, weniger mobil sind und seltener über Schulbildung verfügen.

In beiden Gebirgsregionen - im Salzburger Pinzgau/Nationalpark Hohe Tauern und Pongau wie im Khumbu/Mount Everest Nationalpark - war bis in die fünfziger Jahre die Landwirtschaft der dominierende Wirtschaftsbereich. Bis heute ist der Pinzgau ein stark bäuerlich geprägtes Alpengebiet, im Khumbu bewirtschaftet nahezu jeder Haushalt eigene Felder und hält sich Haustiere. Mit dem Tourismus setzte in beiden Regionen eine Überlagerung der bestehenden Wirtschaftsform ein. Dies führte in der Folge zu einer gemischten Wirtschaftsstruktur mit einem dynamischen und rasch wachsenden Dienstleistungssektor und auch einer Kultur, die sich vom Althergebrachten löste und neue Formen akzeptierte.

Auffällig ist in beiden Jugendkulturen der hohe Mobilitätsgrad bzw. das Ausmaß an verschiedenen Migrationsformen. Die Pinzgauer Jugendlichen sind von Kindheit an gewöhnt, etliche Kilometer in die Schule zu fahren und für höhere Ausbildung in die Kleinstädte zu pendeln. Die Kids of Khumbu legen ebenfalls täglich etliche Kilometer zurück - allerdings zu Fuß. Nur in wenigen Orten gibt es eine Volksschule, eine Highschool-Reife als Abschluß bietet nur die Hillary-Schule im Bergdorf Khumjung, die vom Everest-Erstbesteiger Edmund Hillary gebaut wurde. Gymnasien sind im Pinzgau vorhanden, im Khumbu nicht. Während also die Pinzgauer Schüler ihre Jugend im Pinzgau verbringen, müssen die Sherpas nach Kathmandu oder in eine andere Stadt ziehen, leben entfernt von ihren Eltern und Altersgenossen.

Für Höhergebildete bieten beide Regionen kaum Berufschancen. Highschool- und Universitätsabsolventen finden im Khumbu ebensowenig eine ihrer Ausbildung entsprechende Arbeit wie im Pinzgau, wo die Zahl der Absolventen deutlich größer ist als der lokale Bedarf. Ein "brain drain" der gut Ausgebildeten in Richtung Städte, die zumindest in Österreich ungleich bessere Möglichkeiten bieten, stellt für beide Regionen einen erheblichen Verlust dar. Im Khumbu mangelt es an gut ausgebildeten und ständig in den Dörfern lebenden Personen, die Verantwortung für bestimmte politische Entscheidungen und Entwicklungsprozesse übernehmen bzw. mittragen können. Im Pinzgau wurde durch ein Jugendförderungsprojekt der Dialog mit den Entscheidungsträgern wieder in Gang gesetzt.

Die Pinzgauer Jugendlichen zeichnet eine hohe Bereitschaft aus, ihre Heimat auch als Erwachsene nicht zu verlassen. Sie rechnen damit, einen adäquaten Job zu finden. Diese Aussicht besteht im Sherpaland kaum. Jugendliche beider Gebiete zeichnet aber eine relativ starke Verbundenheit mit der Heimat und regionale Identität aus, die bei den Sherpas auch durch eine ethnische Komponente - "above all, I am a Sherpa" - akzentuiert wird.

Engagement und Initiative bringen vor allem jene Jugendlichen auf, deren Eltern im Tourismus tätig sind, die also im elterlichen Betrieb arbeiten. Ihre Lebensperspektive liegt im Tourismus, zu dem sie in der Regel eine äußerst positive, aber nicht unkritische Einstellung haben. Das Sensorium für ökologische Belange ist unter den jungen Sherpas erstaunlich ausgeprägt, vielleicht mehr als bei den Pinzgauer Jugendlichen, und der Umweltschutz weitaus mehr akzeptiert als in der Elterngeneration. Der Schutzgedanke kommt - wie im Pinzgau - primär von außen, wird an die lokale Bevölkerung herangetragen und von dieser - zumindest hat es für den außenstehenden Betrachter den Anschein - übernommen. Während im Nationalpark Hohe Tauern durch Subventionen des Staates und der Provinzregierung sowie durch eine ausgesprochen effiziente kulturpolitische Strategie das Bewußtsein für den Nationalpark geschaffen werden konnte, wurde im Sagarmatha Nationalpark primär mit Verboten und deren Überwachung agiert. Die arme Bevölkerung hat daher wenig Verständnis für Umweltschutz bzw. dessen praktische Umsetzung. Unter höher Gebildeten steht er aber als zentrale Aufgabe für die Zukunft des Landes ganz oben auf der Tagesordnung.

Rituale der Modernisierung

Bei den Sherpas ist die Häufigkeit von längeren Auslandsaufenthalten im Jugendalter weitaus größer als bei den Pinzgauer Jugendlichen. Schätzungen zufolge nutzt jeder dritte männliche Jugendliche seine Beziehungen zu Touristen oder anderen Sponsoren für einen kurzen oder längeren Auslandaufenthalt, sei es um zu arbeiten oder zu studieren. Die Pinzgauer Jugendlichen hingegen erwiesen sich als sehr ortsverbunden und nur eine kleine Zahl der Jugendlichen kennt andere Länder, sieht man von Sommerurlaubszielen in Italien und Spanien ab. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß viele Eltern selbst im Tourismus tätig sind, daher auch im Sommer während der Schulferien nicht ins Ausland fahren können.

Die Kinder von Khumbu-Lodgebesitzern zeichnen sich wie die Kinder von Hotelbesitzern im Pinzgau dadurch aus, daß sie gegenüber den im Tourismus Angestellten zumeist über mehr Geld verfügen und dadurch ihre Vergnügungspraktiken ausleben können. Die "lodge owner kids" von Namche sind besonders stolz darauf, in den USA gewesen zu sein. Der Trip nach Übersee zählt zu ihren zentralen Statussymbolen. Zu solchen gehören im Pinzgau die modische Kleidung, der Sportwagen oder ein exotisches Urlaubsziel, Trendsportarten und Medienbesitz bzw. Medienkonsum. Gelten diese in eingeschränkten Maßen auch für die wohlhabenden Sherpa-Jugendlichen Kathmandus, so trifft dies auf den Khumbu selbst praktisch überhaupt nicht zu. Status erwirbt man schon deshalb nicht durch ein T-Shirt von DKNY, weil Designermarken kaum bekannt sind. Sozialer Rang, Alter, Stellung in Clan und Gesellschaft gelten in der Sherpakultur auch unter Jugendlichen und werden weitgehend akzeptiert. Status kann daher nicht primär von Insignien der Konsumgesellschaft bestimmt werden, aber sie spielen eine stärkere Rolle als früher. Seit kurzem haben einige Sherpa-Haushalte die Möglichkeit zum Satellitenfernsehen und damit Anschluß an die globale Kulturindustrie. Während im Pinzgau dieser Einfluß von Musik und Bildern eigentlich ungehindert den Jugendlichen sagt, was "cool" und "in" ist, scheint der Einfluß der Medien im Khumbu noch relativ gering zu sein. Mit Ausnahme von solchen populärkulturellen Erscheinungen wie den Jeans, die Jugendliche auf der ganzen Welt tragen, dürfte der amerikanische Einfluß im Pinzgau deutlich größer sein. Dies liegt aber sicher auch an der Verfügbarkeit der Medien, die im Khumbu keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Auch die Schulbildung war lange keine Selbstverständlichkeit im Sherpaland. Während die Schulpflicht in Österreich gut 250 Jahre zurück reicht, wurde die erste Schule im Khumbu vor weniger als 40 Jahren errichtet. Ohne Zweifel hat die Einführung der Schulausbildung den kulturellen Wandel beschleunigt. Die Einstellung zur Bildung hat sich innerhalb von zwei Generationen stark ins Positive gewandt und an Wert gewonnen. Unter der älteren Generation stand die Notwendigkeit einer Schulbildung dann zur Disposition, wenn die Kinder ihren Hilfsarbeiten im Haushalt und auf den Feldern nicht nachkamen. Diese Diskussion bleibt den heutigen Jugendlichen erspart. Einer Schulausbildung wird generell hoher Wert beigemessen, schon deshalb, weil auch Modernität einen hohen Stellenwert genießt und Schulbildung als eine Voraussetzung dazu gilt.

In der Einstellung zu Bildung und anderen Themen, die eine Spannungslinie zwischen Tradition und Modernität darstellen, verläuft auch die Konfliktlinie zwischen den Generationen. Die Sherpa-Jugendlichen halten z.B. die ältere Generation für rückständig und abergläubisch. Sie sei der Technik gegenüber skeptisch eingestellt, schätze den Wert von guter Bildung zuwenig, und von einem neuen Verständnis der Geschlechterrollen, insbesondere der Position der Frauen, wollen die Alten nichts wissen. Junge Frauen kritisieren vor allem, daß sie viel konservativer gehalten werden als Burschen und an den Haushalt gebunden werden, während die jungen Männer Freizeit genießen oder ins Ausland gehen. Es sind die Mädchen und Frauen, die Sherpanis, die in diese Kultur eine bewahrende Kraft einbringen, Kontinuität und Stabilität garantieren, während die Männer fort sind. Die Sozialisation der jungen Frauen erfolgt aus dem weiblichen Selbstverständnis, für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Kultur zu sorgen. Der Generationskonflikt wird im Khumbu somit stärker zwischen Töchtern und Müttern ausgetragen. Für den Pinzgau konnte diese Beobachtung nicht bestätigt werden.

Beide Gesellschaften sind stark männlich dominiert, Frauen oft unsichtbare, aber tragende Säulen in den Familien. Das Dorfleben im Pinzgau wird für die Jugendlichen stark von Vereinen bestimmt, die - nachdem die Sportvereine dominieren - eine Männerangelegenheit sind. Auch im Khumbu werden die Jugendklubs überwiegend von Burschen besucht. Während sich im Pinzgau neben den Vereinen und den Jugendorganisationen der Kirche und der Verbände eine rege Freizeitszene entwickelte, scheint im Khumbu die Dorfgemeinschaft eine noch wichtigere Funktion zu erfüllen. Von Jugendlichen selbstorganisierte Feste bieten Gelegenheiten zum Kennenlernen, die Möglichkeit zum Erstkontakt mit dem anderen Geschlecht. Sie lassen sich mit den Pinzgauer Diskotheken vergleichen, weil auch sie Orte sind, die von Erwachsenen nicht kontrolliert werden können, und die soziale Kontrolle der Normen und Werte nicht so streng gehandhabt wird.

Ein Teil der gebildeten Jugend ist der Meinung, daß mit dem Verschwinden der Sherpa-Sprache auch die Sherpa-Kultur in Gefahr sei. Sie fordern daher Schutzmaßnahmen, um Traditionelles zu retten. Gleichzeitig sind sie Bestandteil eines Veränderungsprozesses, der zwar Traditionelles schwächt oder ersetzt, damit aber auch "den harten Alltag" lindert und das Leben weniger "abgelegen und langweilig" macht. Zweifellos ist der Tourismus daran stark beteiligt, nicht so sehr weil die Touristen einen nachahmenswerten Lebensstil vorleben, sondern weil sich die Sherpas zu Dienstleistern entwickelten, ihr religiöser Rhythmus und der landwirtschaftliche Zirkel durchbrochen und das Alltagsleben stärker an die neue Wirtschaftsform angepaßt wurde.

Die Auswirkungen des Tourismus dürften im Khumbu deutlicher zu Tage treten als im Pinzgau. Im Nationalpark und auch in der südlicher gelegenen Pharak-Region, deren Bauern Zulieferanten für die Touristen sind und ihre Produkte auf dem Markt von Namche anbieten, leben die Menschen zum überwiegenden Teil vom Tourismus, verdienen direkt oder indirekt daran. Im Pinzgau ist etwa ein Fünftel aller Berufstätigen im Tourismus tätig, nochmal so viele sind es in der Zulieferindustrie. Blieben die Touristen aus, wäre das für die Region ein herber Verlust. Für die Bevölkerung im Khumbu wäre es aber eine Katastrophe, weil die Abhängigkeit von dieser einen Wirtschaftsbranche größer ist.

In beiden Regionen lassen sich Transformationsprozesse beobachten, die von den Jungen mitgetragen werden, aber auch Irritationen auslösen. Das alte Gewohnte gab Sicherheit und Ordnung, gilt aber als rückständig, das Neue und Unsichere gewährt noch keinen Halt. Der einzelne ist in seiner Flexibilität herausgefordert und muß rascher auf Veränderungen reagieren. Eine Standardbiographie, wonach die Jungen in die Fußstapfen der Alten treten, ist an der Schwelle zum dritten Jahrtausend weder im Pinzgau noch im Khumbu möglich. Die Unsicherheiten werden hier wie da mit Fluchten bekämpft, mit Alkoholexzessen, die in ländlichen Regionen in Österreich wie in Nepal zur Tagesordnung gehören, mit stillschweigenden Protesten wie mit offener Rebellion. Die jungen Pinzgauer sind Städter im Kopf und auch die jungen Sherpas vertreten überwiegend die Meinung, das wahre Leben spiele sich in der Stadt ab. Es wird für die Zukunft der Sherpa-Kultur wichtig sein, eine enge Verbindung zwischen Stadt und dem Khumbu herzustellen, eine kulturelle Brücke zu schlagen, und sie auch wirtschaftlich tragfähig zu gestalten. Denn mit der Tradition einer Kultur verhält es sich wie mit dem Feuer. Will man es am Leben erhalten, sollte man nicht die Asche bewahren, sondern die Glut.

Kurt Luger, Univ.Prof. am Institut für Kommunikationswissenschaft und am Institut für Interdisziplinäre Tourismusforschung an der Universität Salzburg, Vorsitzender von "Öko Himal", Gesellschaft für ökologische Zusammenarbeit Alpen-Himalaya (www.ecohimal.or.at). Arbeitsbereiche: Interkulturelle Kommunikation, kulturelle, soziale und ökologische Aspekte des Tourismus, Populärkultur, Entwicklungspolitik. Autor des Buches "Die konsumierte Rebellion - Geschichte der Jugendkultur 1945-1990" (Österr. Kunst- und Kulturverlag, Wien)

Akzente Salzburg (Hg.): Gratwanderung zwischen Tradition und Modernität. Studie über die Lebenssituation der Jugendlichen im Pinzgau, Salzburger Land. Durchgeführt von der Forschungsgruppe "Jugendkultur" am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, Leitung Prof. Dr. Kurt Luger. Salzburg 1996.

Kurt Luger: Kids of Khumbu - Sherpa Youth on the Modernity Trail. Kathmandu 2000.

Kurt Luger et.al.: Tourism and cultural change in developing societies. An ethnographic study of the Sherpa youth in Solu-Khumbu, Nepal. Salzburg-Kathmandu 1999.

Kurt Luger/Karin Inmann (Hg.): Verreiste Berge - Kultur und Tourismus im Hochgebirge. Studienverlag:Innsbruck 1995.

Patricia East/Kurt Luger/Karin Inmann (Eds.): Sustainability in Mountain Tourism - Perspectives for the Himalayan Countries. Book Faith India:New Delhi/Pilgrims:Kathmandu/Studienverlag:Innsbruck 1998.

(23.099 Anschläge / 322 Zeilen, Oktober 2000)