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Nicht mit zweierlei Maß

Sicherheit auch für die Beschäftigten im Tourismus


Am Kilimandscharo bricht ein Träger beim Wasserholen zusammen. Während einer Fußsafari in Simbabwe wird der Wildhüter von einem Löwen getötet. In etlichen Reiseländern stellt in solchen Fällen die Großfamilie das Versicherungsnetz dar. Denn in Gesellschaften, in denen das Überleben in einer wirtschaftlich und politisch labilen Gegenwart gemeistert werden muss, ist es Luxus, über eine noch unsicherere Zukunft nachzudenken. Zudem kosten Versicherungen Geld, viel Geld.

Die Sicherheit der Reisegäste wird bei deutschen Veranstaltern groß geschrieben. Versicherungspolicen greifen bei Gepäckschaden und Krankheit, ermöglichen die Rückholung ins Heimatland und garantieren die Versorgung der Angehörigen im Todesfall. Doch wie steht es um die Sicherheit der Arbeitskräfte in den touristischen Zielgebieten – der Hotelangestellten, Busfahrer, Begleitmannschaften und all derer, die mit Touristen zu tun haben?

Sicherheit – was ist das?

Das Wort Sicherheit geht auf das lateinische ’securitas’ zurück, abgeleitet von ’securus – „sorglos, unbekümmert“. Es meint die Abwesenheit von Gefahr und damit den Erhalt der psychischen und physischen Unversehrtheit. Dass Sicherheit ein kulturelles Konstrukt ist, zeigt der Blick auf die englische Sprache. Anders als im Deutschen wird hier zwischen ’certainty’ „Gewissheit“ (beispielsweise pünktliches Gehalt), ’safety’ für „Betriebssicherheit“ (zum Beispiel eine gute Ausrüstung) und ’security’ in Bezug auf von außen kommende Gefahren unterschieden. Und in Ländern, in denen Fatalismus weit verbreitet ist, ist der Sicherheitsgedanke eng mit den Religionen verknüpft. So sind in Nepal religiöse Zeremonien vor Expeditionen für die Sherpas ebenso selbstverständlich wie Gebete der Frauen für eine gesunde Rückkehr der Männer.

Sicherheitsrisiken reduzieren

Sicherheit hängt im Tourismus nicht zuletzt von der Reiseart ab. Abenteuerreisen bergen für die lokalen Mitarbeiter mehr Verletzungsrisiken als ein Cluburlaub. Doch zeigen terroristische Anschläge auf Touristenresorts, dass jede Art von Tourismus mit Unwägbarkeiten verbunden ist. Zu den vermeidbaren oder zumindest stark reduzierbaren Sicherheitsrisiken zählen der Zustand der gestellten Ausrüstung und der Fahrzeuge, aber auch eine gewissenhafte Routenauswahl (vor allem in Regionen mit politischen Unruhen oder in Erdrutschgebieten) und Sicherheitschecks im Hotelbereich.

Almosen versus Verlustausgleich

Auch wenn viele Agenturen vor Ort auf Druck deutscher Veranstalter inzwischen Versicherungen für ihre Angestellten abgeschlossen haben, muss die Frage erlaubt sein, ob die Beträge ausreichend sind, wenn der im Tourismus tätige Hauptverdiener oder die Hauptverdienerin durch ihre Tätigkeit arbeitsunfähig wird oder im schlimmsten Fall das Leben verliert. Durch ihren Arbeitskampf für mehr finanzielle Sicherheit nach dem Lawinenunglück 2014 am Everest zwangen die Sherpas die nepalesische Regierung, statt der angebotenen 295 Euro für die Hinterbliebenen jedes Toten 7000 Euro zur zahlen. Nicht die Summe ist entscheidend, sondern ob sie die Wahrung des Lebensstandards im Ernstfall ermöglicht – und das nicht nur für eine Kleinfamilie nach europäischem Muster, sondern für die weitverzweigte Großfamilie. Das Argument „die haben sich die Jobs doch freiwillig gesucht“, greift nicht, da in vielen Reiseländern Arbeitsplätze fehlen, weshalb auch gefährliche Jobs angenommen werden müssen. Etliche Bergführer und Träger gefährden ihre Gesundheit, z.B. am Kilimandscharo, wenn sie öfter in großen Höhen unterwegs sind, als für Lunge und Gehirn zuträglich ist, oder wenn sie Touristen, die nicht fit sind, gegen extra Bezahlung auf den Gipfel „schleppen“, um ihr karges Gehalt aufzubessern.

Arbeitswege, Medikamente, Straftaten

Im Tourismus arbeitende Frauen wie Hotelangestellte oder Reiseleiterinnen sind beispielsweise in Indien körperlichen Gefährdungen durch Unfälle und sexuelle Übergriffe ausgesetzt, wenn sie am frühen Morgen oder späten Abend in Gebieten ohne ausreichende Straßenbeleuchtung zu Fuß oder in völlig überfüllten und schlecht gewarteten Verkehrsmitteln nach Hause müssen. Zu den körperlichen Risiken für die lokale Bevölkerung zählt auch die gut gemeinte – aber oft wenig durchdachte – Verteilung von Medikamenten durch Touristen, da viele Beschenkte die Beipackzettel nicht lesen können. Manche lokale Mitarbeiter lassen sich für Trinkgelder womöglich zu illegalen Handlungen hinreißen, zum Beispiel in einem streng muslimischen Land heimlich Alkohol für Touristen zu besorgen oder in gesperrte Wüstenregionen vorzudringen, was zu ihrer Verhaftung führen kann.

Bespitzelung inbegriffen

Touristen aus demokratischen Ländern sind es gewohnt, ihre Meinung jederzeit und überall zu verkünden, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Wenigen ist bewusst, dass unbedachte Äußerungen oder lautstarke politische Diskussionen z.B. eine Reiseleiterin in einem autokratischen Land mit umfangreichen geheimdienstlichen Strukturen und Überwachung in ernste Schwierigkeiten bringen können. Auch vertrauliche Äußerungen der Reisebegleiter, die im Internet unbedacht wieder gegeben werden, können Menschen vor Ort gefährden.

Ein Maßstab reicht

Sozialverantwortliche Reiseveranstalter verpflichten sich, beispielsweise im Kriterienkatalog des Veranstalterverbandes Forum anders reisen, auf die Einhaltung lokaler Sicherheitsstandards zu achten. Doch was „lokaler Standard“ sein mag, greift oft zu kurz. Zwar gibt es keine absolute Sicherheit und wird es nie geben, aber es darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Wo es um Menschenleben geht, kann und darf es nicht sein, dass diese unterschiedlich bewertet werden.

Dr. Kundri Böhmer-Bauer ist Ethnologin und Dozentin an der Universität der Bundeswehr. Zudem hat sie sich als interkulturelle Trainerin auf Sicherheitsseminare spezialisiert.

(5.882 Zeichen, Juni 2016, TW 83)