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Für Toleranz und Dialog

Reiseleiterinnen und Reiseleiter als Kulturdolmetscher


Es ist noch früh am Morgen, die Reisenden sitzen im Bus, die Stimmung ist heiter, alle freuen sich auf ihren Ausflug zu den Wasserfällen und ins Gebirge. Der Bus hat das Dorf kaum hinter sich gelassen, als eine hitzige Diskussion aufkommt: "Kein Wunder, dass das in diesem Land nicht voran geht, wenn die Typen schon morgens um acht Uhr im Café rumhängen!" Die Reiseleiterin bekommt dies mit und bittet den Busfahrer anzuhalten. Sie begibt sich mit den Gästen in ein Café, wo sie für alle Tee bestellt. Sie eröffnet das Gespräch mit dem Besitzer und die deutschen Gäste erfahren, dass das Café, in dem sie sich befinden, das informelle Arbeitsamt des Dorfes ist. Hier finden sich die Männer früh morgens ein, um zu erfahren, ob und wo sie heute arbeiten werden. Nach einer angeregten Unterhaltung, in die auch einige der Arbeitssuchenden einbezogen werden, setzt die Gruppe ihren Ausflug fort. Der Tenor der Diskussion ist nun ein anderer. Der Blick der Gäste auf die Türkei ist differenzierter geworden.

An solchen konkreten Erfahrungen setzt das Konzept der entwicklungsbezogenen und interkulturellen Motivationsseminare an, mit denen der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e.V. Reiseleiterinnen und Reiseleiter in Entwicklungsländern anregen will, Brücken zwischen den Kulturen zu schlagen. Die Teilnehmenden sind in der Regel Einheimische, die nicht nur fließend Deutsch sprechen, sondern auch mit der deutschen Kultur vertraut sind. Viele von ihnen sind in Deutschland aufgewachsen oder haben dort studiert. Damit besitzen sie optimale Voraussetzungen, als Kulturdolmetscher zu wirken.

Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation

Obwohl interkulturelle Kompetenz inzwischen eine Schlüsselqualifikation im "globalen Dorf" geworden ist, gehört sie nach wie vor eher selten zum selbstverständlichen Teil der Ausbildung von Reiseleitern und Fremdenführern. Das Fortbildungsangebot der sechstägigen Motivationsseminare schließt diese Lücke und sensibilisiert für die Rolle der Reiseleitung als interkulturell kompetente Begleitung von Reisegruppen.

Es gilt, die eigene kulturelle Geprägtheit und die des Gegenübers - seien es Gäste oder Einheimische - im Hinblick auf Wahrnehmung, Urteilen, Empfinden und Handeln zu erfassen und produktiv zu nutzen, um respektvoll miteinander umzugehen. Durch die "Brille" der eigenen Kultur werden andere, fremde Kulturen wahrgenommen, eingeschätzt und nicht selten auch bewertet. Der Bezug zur eigenen Kultur gibt besonders in Begegnungssituationen mit einer fremden, unvertrauten Kultur Sicherheit und Orientierung.

Je größer die kulturellen Unterschiede und je geringer die interkulturelle Erfahrung ist, desto mehr besteht die Gefahr von Frustrationen und Ärgernissen. Die herkömmlichen Erklärungsmuster greifen nicht in jeder interkulturellen Überschneidungssituation. Dies zeigt sich z.B. am Konzept von Zeit: Ein Deutscher wird sich wohl nie die Frage stellen, wann denn der 16-Uhr-Bus vorbei kommt, ein Nordafrikaner schon. Ein Deutscher wird an der Bushaltestelle ständig auf die Uhr blicken, immer ungeduldiger, und nach einer Viertelstunde regt er sich vielleicht sogar lauthals auf. Ein Nordafrikaner nutzt die Zeit für ein Gespräch oder eine Tasse Tee und ist hocherfreut, wenn der Bus um 16.45 Uhr kommt.

Anregungen zum Perspektivwechsel

Motivationsseminare liefern Impulse, die dazu motivieren, die Perspektive zu wechseln. Reiseleiterinnen und Reiseleiter sollen dazu befähigt werden, den Reisenden ebenfalls neue Blickwinkel zu eröffnen, die zu einem besseren Verständnis entwicklungspolitischer, kultureller, religiöser etc. Gegebenheiten des bereisten Landes beitragen.

Die Seminare sind praxisbezogen und zeichnen sich durch Methodenvielfalt aus: Simulationen wechseln mit Gruppenarbeiten, individuellen Lern- und Arbeitsphasen, Präsentationen und Diskussionsrunden. Immer wieder gibt es Informationseinheiten, die in die Themenbereiche Interkulturelles, Globalisierung und internationale Abhängigkeit, Entwicklung und Tourismus einführen. Im Laufe einer Seminarwoche machen die Teilnehmenden zahlreiche Erfahrungen, die anschließend reflektiert und dann auf die Berufspraxis übertragen werden. In Simulationen geht es z.B. um Fremdheitserfahrungen im Kontakt mit einer unbekannten Kultur oder darum, wie sich internationale Abhängigkeiten konkret auswirken können. Feedback, auch mit Hilfe von Videoaufnahmen, hilft den Teilnehmenden, sich über ihre Stärken bewusst zu werden und gibt ihnen konkrete Hinweise zu ihrem Entwicklungspotenzial. Das betrifft ihr Auftreten und die damit verbundene Wirkung, aber auch Inhalte und ganz besonders Methoden, durch die sich interkulturelles Lernen bei den Urlauberinnen und Urlaubern fördern lässt. Die Umsetzung des Gelernten in die Berufspraxis wird im geschützten Rahmen des Seminars erprobt und optimiert.

Ergebnis: offen

Motivationsseminare erfordern von den Teilnehmenden die Bereitschaft, sich auf einen Lernprozess einzulassen, ohne den Ausgang und die Resultate zu kennen, aber mit der Gewissheit, dass sie danach nicht mehr so sein werden wie zuvor. Die im Verlauf des Seminars initiierten Perspektivwechsel regen zur Auseinandersetzung mit eigenen Wahrnehmungsmustern, Kommunikationsverhalten und Bewertungen an. Sie bieten Impulse zur kritisch-konstruktiven Selbstreflexion. Ehemalige Teilnehmende beschreiben die Erfahrung beispielsweise so: "Vieles, was ich gelernt habe, war mir zwar bewusst, aber mehr latent. Ich bin problembewusst geworden." und "Ich sehe meine Arbeit jetzt nicht mehr nur aus einer Perspektive, sondern aus mehreren. Ich habe gelernt, mit den Augen des Gastes zu schauen und mit Menschen noch besser umzugehen."

Was an Erkenntnissen aus den Motivationsseminaren langfristig in den Berufsalltag integriert werden kann, bleibt offen. Eines allerdings ist sicher: Das Bewusstsein interkulturelle Lehrerin bzw. Lehrer zu sein - symbolisiert durch die silberne Anstecknadel bei erfolgreichem Seminarabschluss - trägt zu einem veränderten, mitunter sogar verändernden Umgang mit Reisenden bei und setzt auch bei diesen den einen oder anderen interkulturellen Lernprozess in Gang.

Der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e.V. führt die "MotivationsSeminare" mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) - und über viele Jahre auch in Zusammenarbeit mit Tourism Watch - seit Mitte der 1970er Jahre durch. Seit 2002 können erfolgreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Basic Seminars auch ein Aufbauseminar belegen. Seit 2006 werden Motivationsseminare auch auf Englisch angeboten.

Weitere Informationen: www.tourguide-qualification.org

Dr. Ursula Günther ist Islamwissenschaftlerin und Pädagogin und seit 1997 Mitglied des Trainerteams der Motivationsseminare.

(6.207 Anschläge, 84 Zeilen, September 2010)