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Enttäuschte Erwartungen

"Ökotourismus" im chinesischen Naturschutzgebiet Nankunshan


Der Binnentourismus in China boomt. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen allein Gruppenreisende auf der Jagd nach Sehenswürdigkeiten das Bild des chinesischen Tourismus bestimmt haben. Der Wunsch nach Erholung vom geschäftigen Alltag, nach einer Auszeit für Körper und Seele lässt neue und individuellere Formen des Reisens zunehmend populärer werden. Natur- und Agrotourismus befinden sich derzeit im Aufwärtstrend. Die chinesische Regierung begreift dies als Chance, um über die Reiseindustrie auch entlegenere Landstriche zu entwickeln, die vom Wirtschaftsaufschwung bislang kaum profitiert haben.

Vorrangig geht es um wirtschaftlichen Aufbau und Armutsbekämpfung in den westlichen und zentralchinesischen Provinzen. Häufig ist ländliche Armut jedoch ebenso in der unmittelbaren Nachbarschaft boomender Wirtschaftsmetropolen anzutreffen. Gerade hier scheint die räumliche Nähe von Angebot und Nachfrage eine ideale Voraussetzung zu sein, um das Reisebedürfnis erholungsuchender Städter im Sinne der Armutsbekämpfung zu instrumentalisieren.

Naturschutz und Tourismus in Nankunshan

Das gilt auch für das Naturschutzgebiet Nankunshan, circa zwei Autostunden entfernt von der Millionenstadt Guangzhou. Anfang des neuen Jahrtausends wurde es für den Ökotourismus entdeckt. Über 90 Prozent der Besucher, meist Wochenendgäste, kommen aus den umliegenden urbanen Gegenden, viele aus Guangzhou selbst.

Seit 1984 ist das 17,5 qkm große Gebiet mit seiner vielfältigen Flora und Fauna als Nationalpark ausgewiesen. Hier leben auch diverse gefährdete und seltene Arten. Wie die meisten chinesischen Schutzgebiete kann der Park kein ausreichendes Budget gewährleisten, wenn er nicht eigene Gelder erwirtschaftet. Der Tourismus gilt vielen Reservatleitungen in China als ideale Finanzierungsquelle, da erwartet wird, dass sich nachhaltigere Formen des Reisens im Einklang mit ökologischen Erfordernissen entwickeln lassen.

2002 wurde daher auf Betreiben der Parkverwaltung von Nankunshan entschieden, die touristische Entwicklung auch hier beträchtlich zu intensivieren. Neben dem Schutzgebietsbudget sollte die lokale Bevölkerung davon profitieren. Die Einkommensmöglichkeiten der Anwohner hatten sich durch die Ende der neunziger Jahre erlassenen forstlichen Nutzungs- und Einschlagbeschränkungen drastisch verringert. Zu einem überwiegenden Teil waren die Gemeinschaften von Armut betroffen. Im Naturpark sind 23 Dörfer mit insgesamt fast 5.000 Einwohnern beheimatet, die der Volksgruppe der Hakka angehören. Ein für Nankunshan erstellter Tourismusplan stellte eine erhebliche Verbesserung ihrer ökonomischen Situation in Aussicht: Innerhalb von drei Jahren sollten zweihundert direkte Arbeitsplätze entstehen, durch indirekte Effekte zusätzlich 250 neue Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden.

Dorfentwicklung durch private Investitionen

Ein zentrales Ziel des Masterplans bestand darin, die Destination mit direkter Beteiligung der Dorfbewohner zu etablieren. Nach dem Vorbild einer bereits existierenden und erfolgreich geführten privaten Urlaubsherberge im Schutzgebiet sah der Masterplan den Bau privater Gasthäuser vor, die von den Dorfbewohnern selbst errichtet und betrieben werden sollten. Tatsächlich schien dieser Plan zunächst aufzugehen:

Über sechzig Bauernfamilien bauten sich mit einfachen Gasthöfen und Restaurants ein zweites wirtschaftliches Standbein zur Landwirtschaft auf. Die Gäste werden mit lokalen Erzeugnissen versorgt. So ersetzt der Tourismus nicht eine weniger lukrative Einkommensquelle, wie dies in vielen Projekten in China der Fall ist, sondern erweitert die Einkommensmöglichkeiten. Da die Reisebranche selbst ein störanfälliger Wirtschaftszweig ist, zielte diese Diversifikation darauf, wesentlich mehr Sicherheit als die einseitige Abhängigkeit von nur einer Verdienstquelle zu bieten. Darüber hinaus sollte die Landwirtschaft durch die zusätzliche Nachfrage gestärkt werden.

Zwischen Planung und Realität

Nach einer erfolgversprechenden Anfangsphase wird das Projekt jedoch nun, nach mehr als zehn Jahren, sowohl von Fachleuten als auch von der lokalen Bevölkerung zunehmend skeptisch beurteilt. Der Masterplan wurde – wie häufig in China – am grünen Tisch von Tourismusexperten und lokalen Verwaltungsangestellten konzipiert. Nun stößt er an die Grenzen realer Gegebenheiten. Laut Zhao Haixia und Luo Shoumei, Forscher an der South China Normal University, krankt er vor allem am Fehlen eines langfristigen Planungsrahmens, an der mangelnden Einbeziehung von Praktikern und Betroffenen in die Planung sowie an fehlender staatlicher Unterstützung.

Das Projekt erhielt lediglich in der Anlaufphase Finanzhilfen. Inzwischen ist die Dorfbevölkerung auf sich allein gestellt. „Die Regierung hat uns vergessen“, klagt einer der Bauern, die erhebliche finanzielle Anstrengungen unternommen haben, um die Mittel für den Bau der Gastherbergen aufzubringen. Die privaten Geldquellen sind erschöpft, viele der Dorfbewohner haben sich verschuldet.

Mangelhafte Infrastruktur

Die Gästehäuser warten auf mehr Touristen, es fehlt jedoch an einer geeigneten Infrastruktur. Die vorhandene Wasser- und Elektrizitätsversorgung, ebenso Gesundheits- und Hygieneeinrichtungen entsprechen in keiner Weise dem touristischen Bedarf. Eine asphaltierte Straße ist mit staatlichen Geldern nur bis zur luxuriösen Ferienanlage einer privaten chinesischen Investorengruppe gebaut worden. Die Gasthöfe der Bauern sind nur über unbefestigte Lehmstraßen zu erreichen, deren Zustand die Anreise zum Abenteuer werden lässt.

Als erheblicher Nachteil, der im Tourismusmasterplan nicht berücksichtigt wurde, erweist sich zudem die verstreute Lage der Dörfer und der einzelnen Gasthäuser im Schutzgebiet. Synergien durch gemeinsame Planung und Finanzierung der Kleininvestoren, die die Attraktivität, die Ausstattung und den Bekanntheitsgrad der Destination erhöhen würden, ergeben sich höchstens in Ausnahmefällen. Die Besitzer der Gasthöfe bleiben Einzelkämpfer, denen sowohl die finanziellen Mittel als auch das Know-how fehlen, um ohne Unterstützung eine touristische Destination auf lange Sicht erfolgreich etablieren zu können.

Erfolgreiche Armutsbekämpfung?

Als Maßnahme zur Armutsbekämpfung bleibt das Projekt letztlich weit hinter seinem Potenzial und den ursprünglichen Erwartungen zurück. Mit einer Auslastungsrate der Gasthöfe von lediglich 30 bis 40 Prozent wirft der Tourismus für die Bauern, die investiert haben, zu wenig Gewinn ab. Die übrige Bevölkerung profitiert in keiner Weise, da weitergehende Infrastrukturverbesserungen durch den Staat, die allen armen Haushalten zugute kämen, nicht geplant sind.

Folgen für den Naturschutz

Für den Naturschutz erweist sich die Entwicklung als Desaster. Die Verwaltung des Schutzgebietes und die privaten Investoren räumen angesichts knapper Geldmittel dem wirtschaftlichen Gewinn oberste Priorität ein. Ökologische Kosten werden vernachlässigt. In dem Bemühen, doch noch genügend Touristen anzulocken, bleibt die Natur eine rein ökonomische Variable. So werden z.B. Off-road-Strecken mitten im Naturschutzgebiet zu touristischen Attraktionen. Kulinarische Spezialitäten, wie das bedrohte und eigentlich geschützte chinesische Schuppentier, lassen sich auf der Speisekarte ohne größeren finanziellen Aufwand anbieten.

Somit bleibt die Vorstellung vom Tourismus als ökonomischem „Selbstläufer“, der sich umstandslos für die Armutsbekämpfung einsetzen lässt und gleichzeitig dem Naturerhalt dient, in Nankunshan – zumindest vorerst – eine Illusion.

Dr. Ulrike Solmecke ist Senior Researcher an der Fakultät für Ostasienwissenschaften/ Lehrstuhl für Politik Ostasiens an der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Nachhaltigkeit und Wertewandel, die Rolle Chinas im internationalen Nachhaltigkeitsdiskurs sowie Nachhaltigkeit und Tourismus in China.

Weitere Informationen:Nachhaltigkeit im interkulturellen Kontext – Theoretische Überlegungen und praktische Implikationen am Beispiel des Tourismus in der VR China. Von Ulrike Solmecke. Metropolis-Verlag, Berlin, 2014. 459 Seiten, ISBN-13: 978-3731610632

(7.478 Zeichen, September 2014, TW 76)