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Bald ein weiteres verlorenes Paradies?

Timor-Leste vor einer rasanten Entwicklung des Tourismussektors


"Ich habe Angst!" – José Maria Borges ist ein hagerer Mann, etwa Mitte Fünfzig. Er hat einen durchdringenden, fixierenden Blick, seine Stimme ist rau und einprägsam: "Ich weiß nicht, wer es war, aber sie haben mir fast alles genommen, was ich besitze!" Im abendlichen Kerzenlicht wirken seine Worte unheimlich.

Es ist nun fünf Jahre her. Mitten in der Nacht kamen maskierte Männer und stürmten in das kleine Haus am Meer, in dem José gemeinsam mit seinen neun Kindern wohnt. Er kann nicht sagen, wie viele Eindringlinge es waren, alles ging zu schnell. Es wurde geplündert, randaliert, und – viel schlimmer noch – die Existenzgrundlage der Familie zerstört: Von den vier einfachen Bungalows, die José 2004 auf seinem Grundstück gebaut und seitdem mit steigendem Erfolg an Touristen und die zahlreichen im Land lebenden Ausländer vermietet hatte, konnte nur einer gerettet werden. Die anderen drei brannten komplett nieder.

José ist traurig. Trotzdem wirkt er nicht verbittert. Vielmehr strahlt er eine Art Resignation aus, die für Timor-Leste nicht untypisch ist. Gewalt ist eben auch nach der Unabhängigkeit des Staates von seinen indonesischen Unterdrückern im Jahre 2002 ein bekannter Begleiter in der einstigen (bis 1975) portugiesischen Kolonie. Den Feierlichkeiten der Befreiung folgten noch im selben Jahr erste innenpolitische Unruhen, bis sich schließlich in den Jahren 2006/2007 ein massiver ethnisch-politischer Konflikt aufschaukelte, der das halbe Land in Flammen setzte und 150.000 Binnenflüchtlinge zur Folge hatte – und das bei einer Gesamtbevölkerung von nur rund einer Million Menschen. Zudem wurde Anfang 2008 der Präsident José Ramos-Horta bei einem Attentat durch aufständische Rebellen schwer verletzt.

"Geheimtipp" am äußersten Ende Südostasiens

In den wenigen Jahren zwischen der Unabhängigkeit und den Krisen hatte sich Timor-Leste zu einem Geheimtipp unter Individualreisenden entwickelt. In einschlägigen Blogs und Magazinen wurde von einem "neuen, unberührten Paradies" geschwärmt, das "nicht wie Laos oder Kambodscha schon völlig überlaufen" sei.

Als größtes touristisches Potenzial ist, neben den drei typischen 'S' (Sonne, Sand & See), der Tauchtourismus zu nennen, da Timor-Leste inmitten des 'Coral Triangle Reef' liegt und seine Riffe vor der Nordküste zu den artenreichsten und vitalsten der Welt gehören. Dementsprechend sind die Marketingaktivitäten des Nationalen Tourismus-direktoriums (NTD) auf Erlebnisse auf und unter Wasser fokussiert. Die einzigartige Vielfalt und Mischung melanesischer, austronesischer, portugiesischer und indonesischer Kulturen sowie das Erbe aus 500 Jahren Fremdherrschaft durch Portugiesen und Indonesier findet somit wenig Beachtung – auch weil sich die Timoresen immer noch inmitten des Prozesses der Aufarbeitung der indonesischen Schreckensherrschaft befinden. Wie soll ein junger Staat seine teils grausame Geschichte touristisch in Wert setzen und vermarkten, wenn dieses Kapitel für seine Bürgerinnen und Bürger noch längst nicht abgeschlossen ist?

Die Regierung setzt auf eine behutsame Entwicklung – zumindest offiziell

Seit 2008 ist das Land verhältnismäßig stabil. Die Zahl der Touristenankünfte stieg zuletzt auf 26.714 pro Jahr (2009). Darunter dürfte jedoch eine nicht unerhebliche Anzahl an Mitarbeitern der internationalen Entwicklungszusammenarbeit sein, die oft kurzfristig mit einem Touristenvisum einreisen. Natürlich sind es auch jetzt noch fast ausschließlich Individualreisende, die sich in die äußerste Peripherie Südostasiens begeben. Dementsprechend finden sich außerhalb der Hauptstadt Dili, die durch die hohe Präsenz von hier lebenden Ausländern eine überteuerte 'Bubble Economy' aufrecht erhält, bis dato fast ausschließlich kleinere, einfache Unterkünfte in timoresischem Besitz. Dies liegt auch an der schwachen Verkehrsinfrastruktur, die das Reisen außerhalb der Hauptstadt extrem erschwert, bzw. in der Regenzeit manchmal sogar unmöglich macht.

Offiziell deckt sich diese Aufteilung – internationale Hotels in Dili, einfache timoresische Unterkünfte in den ländlichen Distrikten – mit der Strategie der Regierung, wie José Quintas, der Leiter des NTD, betont: "In den Distrikten setzen wir auf kleinere Unterkünfte in timoresischem Besitz. In Dili hätten wir dagegen gerne ein paar mehr Hotels, die dem internationalen Standard entsprechen. Aber auch diese sollen eher 'small-scale' sein, so eine Art 'Boutique-Hotels'. Denn die Top-Hotels, die wir hier in Dili haben, konzentrieren sich bislang auf die Expatriates und nicht auf Touristen." Auch das im 21. Jahrhundert allgegenwärtige Schlagwort einer nachhaltigen Entwicklung hat Timor-Leste erreicht: "Natürlich müssen wir vorsichtig sein und unseren Tourismussektor sehr, sehr behutsam entwickeln. Die Timoresen sollen den Tourismus hier tragen, es ist ihr Land – also muss es auch ihr Tourismus sein."

Die Ruhe vor dem Sturm

Diesen inhaltsschweren Worten gegenüber stehen anhaltende Gerüchte, dass Investoren aus China, Australien und vor allem Singapur schon in den Startlöchern stehen und mit Spannung die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühjahr erwarten. Verlaufen die Wahlen friedlich und ohne größere Tumulte wie 2007, steht einer raschen touristischen Erschließung des Landes wohl nichts mehr im Wege. Bekannt gewordene Planungen für ein 5-Sterne-Resort nahe der Hauptstadt lassen vermuten, dass diese Entwicklung kaum im Rahmen von 'small-scale'-Projekten stattfinden wird. Geplant sind dort 350 Zimmer und mindestens ebenso viele Mitarbeiter sollen für das Wohl der Gäste sorgen. Dass die Timoresen dabei wohl nur Chancen auf schlecht bezahlte Anstellungen als Service- und Reinigungskräfte haben werden, liegt bei einem Blick auf die aktuellen Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich Tourismus nahe. Denn die wenigen angebotenen Kurse kleiner touristischer Fachschulen legen den Schwerpunkt exakt auf diese vermeintlich simplen Tätigkeiten und fördern die Herausbildung einer vielzitierten 'Generation von Kellnern und Putzfrauen'.

Auf dem Weg zu einem 'verlorenes Paradies'?

Dass die Regierung den Verlockungen der Investoren widerstehen kann und tatsächlich weiter in Ruhe eine behutsame Entwicklung des Tourismussektors verfolgt, ist äußerst unwahrscheinlich. Zwar kann der Staat beträchtliche Erträge aus der Öl- und Gasindustrie verbuchen, es mangelt jedoch an Erwerbsmöglichkeiten für die junge Bevölkerung, die mehr und mehr Druck auf den Arbeitsmarkt ausübt. Vor diesem Hintergrund scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die Regierung ihre einstmals guten Absichten über Bord wirft und das Land zum 'touristischen Ausverkauf' freigibt. Dann wäre womöglich ein weiteres 'Paradies' bald ein 'verlorenes Paradies'.

Doch selbst wenn Investoren in den nächsten Jahren die Küsten nahe der Hauptstadt erobern, werden in den weiter entfernten Distrikten weiterhin kleine timoresische Unterkünfte die Regel bleiben – allerdings allein weil sie so schwierig zu erreichen sind. "Vielleicht", so sagt José Maria Borges, "werde ich dann meine Bungalows wieder aufbauen. Denn wenn viele Investoren im Land sind, bedeutet das doch nur eines: Die Lage ist sicher und friedlich." In der Zwischenzeit tut José das, was die meisten Timoresen tun: Er hält sich und seine Familie irgendwie über Wasser.

Christian Wollnik hat Geographie an der Philipps-Universität in Marburg studiert und war von Dezember 2010 bis Februar 2011 zur Feldforschung in Timor-Leste. Dieser Artikel entstand im Rahmen seiner Diplomarbeit zum Thema "Sustainable Destination Management in Timor-Leste". Die Arbeit steht ab Januar 2012 auf der Internetseite der Deutschen Osttimor Gesellschaft (DOTG e.V.) zum Download bereit: www.osttimor.de

(7.382 Anschläge, 96 Zeilen, Dezember 2011)